Lost & Found in Kokura

Tag 8/Etappe 6 - Und zweitens als man denkt ...

Gestern Abend gab es Regen. Ich habe es genau gehört. Sanft legte sich ein akustischer Schleier über die Stadt, alles wurde ruhig, zu erst kleine Fäden, kaum sichtbar, dann dicke Tropfen.

Au Backe, Regen!

Regen - Hasswort aller Tourenfahrer, schlimmer fast noch, als Berge oder Steigungen. Regen, wie er dir die Kleider durchnässt, in alle Ecken deines Körpers kriecht, dir vom Helm tropft, dein Rad angreift, deine Schaltung schleifen lässt. Dann die Gischt, die brutal und dreckig von den Truck hochgeworfen wird. Regen, der in deine Taschen eindringt, alles aufweicht, aufweicht, wie deinen Willen. Regen. Ich stehe schockiert am Fenster, gestern Abend.

Und heute? Es ist 6 Uhr, ich halte es nicht aus - sollte es immer noch regnen? Ich pelle mich aus meinem warmen Bett, ziehe die Vorhänge beiseite ... es ist trocken. Gottseidank.

Ich schlafe noch eine Stunde, selig.

Ein Mörderanstieg zum Frühstück

Ach, herrlich, es ist eine gute Wahl gewesen, sich das Dormy Inn auszusuchen. Nicht unbedingt, weil ich hier in der Lobby zum ersten mal seit ich in diesem HighTech-Land bin, einen Computer mit Internetzugang finde, sondern, weil es hier wieder ein leckeres Frühstück gibt. Und sogar - so verspricht es das armdicke Infobuch in meinem Zimmer - weil es hier "Western Breakfast" geben soll.

Heißa! Kaffee ... schönen, heißen, starken, leckeren Kaffee. Mit Milch und Zucker. Wie er sein soll. Ahh, herrlich, denke ich, herrlich und süß, ein Kaffee! Das alles klingt wie aus einer anderen Welt für mich, Kaffee, so lange schon habe ich mich hier nur von Dosen und eiskaltem Cappuccino ernährt.

Ah, und, vielleicht, wenn es nicht zu viel verlangt ist, Brötchen? Croissants oder, naja, meinetwegen, auch Toast? Ginge das, lieber Hotelgott? Toast, schön goldgeld, knackig, mit, ach, einfache Erdbeermarmelade reicht mir, es muss ja nix Aufregendes oder Ausgefallenes sein. Okay? Ja? Kaffee, Toast und gut? Bitte?


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Voller Knurren im Bauch, voller Hoffnung und mit glänzenden Augen stehe ich 7:30 Uhr an der Tür zum Speiseraum. Ich höre sie klappern und scheppern, ich höre sie sprechen und machen und tun. Mit mir sind noch zwei andere Herren so früh aufgestanden, alle fingern wir nervös an unseren Frühstücksbons herum, als eine Bedienstete endlich die Tore öffnet, ein lautes "Ohayu gozaimas!" in das Foyer singt und sie so tief verbeugt, dass selbst mir die Lendenwirbel schmerzen.

Und was soll ich sagen? Wenig später sitze ich vor einem vollgestellten Tablett und weiß nicht, wo ich anfangen soll: Eine große Schüssel mit kaltem Reis steht da, garniert mit frisch gehacktem Lauch. Daneben ein Becher mit dem Schleim der Okraschote - nebenan beginnt der Eine bereits damit, Reis und Schleim kunstvoll in ein Nori-Blatt zu wickeln, um beides dann mit lautem Schlürfen zu verspeisen. Zudem eine Schüssel, es dampft, mit heißer Brühe und Nudeln. Ramen genannt. Ein Glas heißer Tee gesellt sich zu einer frisch filetierten Orange.

Kein bisschen Western, das Frühstück.
Sie entschuldigen sich untertänigst, als ich frage - Western gibt es erst ab 8.
Verdammt! Kaffee, Croissant. Ein Traum.
Und so helfe ich mir wenigstens Ramen und Reis rein, wer weiß, denke ich mir, wer weiß, was heute kommt, wer weiß, ob ich nicht die Kohlehydrate gebrauchen kann?

Kann ich. Und wie - denn als ich eine halbe Stunde später die Stadt verlassen will, folge ich meinem altbekannten Highway 11 erst einmal bis zu einer Steigung, vor der ich zunächst einmal stoppen muss. Das ist jetzt nicht euer ernst, oder? Es ist nicht einmal neun Uhr!

Vor mir zieht die Straße an und geht 1.500, nein, mehr, 2.500 Meter schnurstracks ... nach oben. Eine einfache, so simple und dabei so brutale Optik - einfach nach oben. Ein gerades Stück Asphalt, ein schwarzes Band Belag, steigt an bis zum Horizont.

Da können dann auch die Oleanderbüsche und der breite Radweg nichts ändern. Der Tag begiunnt mit Quälerei. Dicht ist der Verkehr bereits, ich habe schon wieder ganz vergessen, wie das war, gestern, als ich oft eine Viertelstunde lang allein, vollkommen allein war, mit mir, der Straße und diesen fantastischen Ausblicken, dort, rund um Naruto, wo ich das Paradies gesehen habe.

Hier aber und heute zuckelt Sekunde um Sekunde ein neuer Truck vorrüber, ein neuer Van, ein weiterer Kleinwagen. Der Oleander duftet stark, aber nicht gerade nett, und die Massen an Bienen, Insekten und vor allem Spinnen, die hier wieder ihre Riesennetze gespannt habe - viele Radfahrer stören sie hier ja nicht - machen mich meinen Mund schließen, denn wollte ich Protein essen, hätte ich vorhin im Hotel noch die Okraschleim-Schüssel gehabt.

Ich stöhne unter Schweiß, als ich aus dem Kessel Takamatsus heraus bin. Na, das fängt ja heiter an!

Der Takamatsu-Expressway, den ich gestern weitab links von mir gesehen habe, wie er sich mutig und verwegen durch die nahen Berge geschlängelt hat, auf abenteuerlich konstruierten Brücken, durch zahlreich gesprengte Tunnel, er kehrt nun zurück und verläuft genau über meiner Straße. Schatten. Angenehm.

Aber auch langweilig - immer dieses Monstrum über meinem Kopf, das stetige Zischen des Verkehrs über mir und alle 800 Meter eine Auf- und Abfahrt, garniert mit Ampeln, die es verhindern, dass ich in einen runden Tritt komme. Ich hoffe, er gibt bald wieder die Sicht frei und schwingt sich auf ins Gebirge, wo sich die Ingenieure wieder austoben können, sich beim Brücken- und Tunnelbau übertrumpfen können.

Die Landschaft verändert sich. Takamatsu ist längst schon nicht mehr zu sehen, das Meer allerdings leider auch nicht. Dafür links und rechts eine weite Ebene, begrenzt durch bewaldete Hügel, Reisfelder, na klar, soweit das Auge reicht.

Jetzt, wo es endlich eben ist, komme ich auch wieder gut voran. Mein rechtes Knie scheint sich zumindest so weit erholt zu haben, dass ich wieder normal fahren kann, owbohl ich versuche, es nicht zu übertreiben: Heute ist Halbzeit und ich fahre heute auf Sparflamme. Das selbe noch einmal, bitte, Herr Bikegott.

Und da öffnet sich der Himmel, die Wolken verziehen sich, die Sonne kommt hervor, strahlt, strahlt mich an, wärmt und heizt mich. Das selbe noch einmal?, fragt der Bikegott? Ja, antworte ich im Geiste, ist ja Halbzeit. Okay, sagt er, macht, dass der Highway in einer langen Kurve verschwindet, ich fahre im Freien und höre den Bikegott sich freuen - Okay, Lars, wie du meinst, sagt er ...

Es klingt wie eine Drohung. Aber ich blicke nach vorn, und was ich sehe, ist schön.

Along the Great Wall

Das Wetter ist heute wieder großartig. Wie weit weg kommt mir das vor, was ich mir noch vor drei, vier Stunden in meinem Hotelzimmer ausgemalt habe: Wolkenbruch, Regen, alles ist nass, ich, durchnässt, schlotternd in der Gischt des mörderischen Verkehrs, dunkle, schwere Wolken, die schwarz über den Bergen hängen und in dicken Tropfen abladen, was sie im grünen Hinterland aufgesogen haben.

Und ich, triefend und frierend auf einem quietschenden, sich quälenden Rad, Öl, das von meiner Kette gespült wird, Straßendreck, Sand, der meine Lager zerschmirgelt, Erkältung, Regenjacke, liegt zu Hause, na, da liegt sie gut, Hallo Erkältung - Bye Urlaub.

Und nun? Nun fahre ich wieder durch sich stetig erhitzenden 25 Grad, heute, da bin ich mir sicher, werden es sicher wieder über 35 Grad werden und - hossa, das habe ich mir heute morgen noch einmal ganz genau auf der Karte angeschaut - und heute gibt es zumindest auf den letzten Kilometern eine richtig feine, wilde Fahrt durch richtig schöne, feine Berge. Aber da will ich mal nicht vorgreifen, denn bis zu den Bergen, dem Sahnehäubchen dieser heutigen Etappe, sind es noch gut und gerne 150 Kilometer.

Ich blicke nach rechts, die Berge werden höher und höher, die Sonne brennt bereits in den Augen und ich merke, dass ich schon eine Weile lang Durst habe. Calpis-Water, mein Zauberwasser, es löscht ihn.

Und ich gebe mich der Hoffnung hin, dass es mehr macht, als nur Durst zu löschen. Irgendwie fliegt wieder die Zeit, habe ich das Gefühl, denn nachdem ich Sakaide und Marugame passiert habe, Route 11 einen kleinen Schlenker inlands gemacht und mich an zwei, drei seeseitigen, irre hohen Bergen vorbei geschenkert hat, steht auf einmal eine 60 bei der Tagesleistung und ich mache meine erste Pause am Family Mart.

Ich sitze auf einer Mauer hinter dem Store und esse ein frisches, dickes Thunfischsandwich. Calpis-Water - frisch und kalt - steht bereit, ebenso, wie ein paar Bananen und noch ein Schokokuchen.

Direkt vor mir weht seichter Wind durch sattes Grün eines kleinen Reisfeldes. Immer wieder bin ich erstaunt, wie hier jeder noch so kleine Platz für den Anbau des Grundnahrungsmittels genuzt wird - jeder freie Quadratmeter, und dabei ist vollkommen egal, ob das Feld nun in einen Berg gefräst, sich inmitten bewohnter Häuser in einem Stadtzentrum oder weitab, mitten im Wald an irgend einem Fluss befindet.

Wie würde das Pendent in Deutschland aussehen? Ein zwanzig mal zwanzig Meter großes Weizenfeld in Hamburg St.Georg, neben meiner Lieblingsbar? Ein einhundert Meter langer, aber nur 3 Meter breiter Schlauch, in dem die Maispflanzen hochgewachsen stehen, in Berlin-Friedrichshain? Undenkbar bei uns.
Aber hier, hier kämpfen sie um jedes Körnchen, das sie ernten können.

Chemisches

Der Ort heißt Niihama. Er ist in etwa die Hälfte meiner Etappe. Die Tagesmitte. Ein Meilenstein, immer, jeden Tag. Denn jeden Tag aufs Neue suche ich mir den Punkt aus, an dem die Kilometer "weniger" werden. Das ist natürlich Schwachsinn, denn mit jedem Meter, den ich fahre, wird die noch offene Distanz geringer, aber mich motiviert meine eigene Milchmädchenrechnung mehr: Am Anfang habe ich die ganze Hälfte vor mir. Dann, irgendwann, erreiche ich die Mitte der Etappe. Und dann, dann sage ich mir: "Ah, genial - nun noch einmal das Ganze und du bist durch."

Verstehe vielleicht nur ich selbst, aber da hat wohl jeder seine eigenen Techniken, um sich zu motivieren, jeden Tag 150 Kilometer und mehr zu treten, durch ein Land, in dem einem die Klopapierspender Dankeslieder vorsingen, wenn man ich den Hintern putzen will, man aber kein Wort, kein einziges Wort mit den Menschen sprechen kann, in einem Land, wo eine Straße nicht den Namen Straße bekommt, wenn sie nicht mindestens einen technisch anspruchsvollen Tunnel durch- und einen bis dato als unüberbrückbar geltenden Pass überquert hat.

Also die Hälfte. Niihama, die Stadt, die ich herbeisehne. Denn von hier an zähle ich die Kilometer rückwärts.

Als erstes von Niihama merke ich den Geruch.
Es stinkt dermaßen, dass mir nicht nur die Lungen, sondern auch die Augen tränen.

Die Straße - voll gestopft mit Autos und Trucks, die nur selten mäßig schneller als ich sind - schieß schnurgerade, etwa 10 Kilometer vom Ufer entfernt, in ein Industriegebiet. Chemiewerke, Hydrierwerke, Petrolchemie, Kunststoffe, Düngemittel, das ganze Programm. Links und rechts von mir, alle paar hundert Meter, eine Einfahrt zu einem neuen Werk.

"Chemical City" möge man das hier taufen, aber mir bleiben meine Späße im Halse stecken - denn zu den Abgasen, die hier kaum abziehen können, da weder frischer Wind weht noch die Autos selbst Windsog erzeugen würden, gesellen sich Dämpfe aus den unzähligen Schornsteinen und Lagertürmen beiderseits der Straße.

Fast scheint es, greife das Chemische auch den Belag an, denn stirnrunzelnd stelle ich fest, dass ich mehr und mehr auf Schlaglöcher, riesige Risse und sogar fehlende Asphaltdecke achten muss. Die sonst so vorbildlich gepflegten Straßen, in Chemical City erinnern sie mich an Bilder von Berlin 1945.

Meine Lungen brennen. Es tut jeder Atemzug weh. Dazu alle paar hundert Meter ein anderer Gestank: Mal so faulig, dass ich das Gefühl habe, durch eine Kläranlage zu waten, mal ätzend, als sei der 1. Mai ausgebrochen und eine Straße neben uns gehen die Einsatzkräfte massiv mit Tränengas gegen die Randalierer vor und mal riecht es dermaßen nach Lack, dass ich aufpassen muss, nicht die bunten Pinguine, die allenthalben flatternd auf die Fahrbahn rennen, umzufahren ...

Bloß weg hier, nur durch hier!

Ich versuche, so gut wie möglich Gas zu geben, schlängele mich an der staustehenden Blechschlange vorbei, die hier kilometerweit steht und auf was weiß ich was wartet und versuche ebenso, so wenig wie möglich zu atmen.

Die Sonne knallt auf meinen Kopf. Das macht sich gut, wenn man gerade alle möglichen Kohlenwasserstoff-Benzol-Verbindungen eingeatmet hat, die das Periodensystem der Elemente so zu bieten hat.

Ich brauche fast eine ganze Stunde, um diesem Albtraum zu entkommen.
Und noch einmal eine halbe Stunde, um den Moloch Niihama hinter mir zu lassen.

Als ich wieder das erste mal freies Land, Grün, weite Flächen, meinetwegen auch die Berge und vor allem frische Luft sehe - ja, sehe - mache ich eine Pause und spüle den ganzen Chemiedreck ab.

Halbzeit. Endlich kann ich mich freuen.

Dehydration auf höchstem Niveau

Endlich geht es nach dem Horrortrip durchs Periodensystem der Elemente wieder ein wenig näher an das Meer heran. Welle um Welle läuft das Liegerad sanft über die Ausläufer der bis zu eintausend Meter hohen Berge, die da ein, zwei Kilometer neben mir auf der rechten Seite wie eine massive Mauer den Blick aufs Hinterland versperren.

Ab und zu kann ich die Autobahn sehen, die sich gewohnt halsbrecherisch als massives Betonband von Hügel zu Hügel und von Höhle zu Höhle schwingt.

Die Sonne brennt unablässig danieder, ich schwitze, ich schwitze, ich ... brenne.

Ich schwitze so sehr, dass ich anhalten und meinen Kopf in einer Toilette eines Conbini-Stores einige Minuten unter das eiskalte Wasser halten muss, um nicht einen Koller zu erleiden. Wie heiß mag es heute wohl sein in der Sonne? 40 Grad? Mehr?

Ich schaue an mir herab - auf den Beinen, auf den Armen, auf meinem Bauch, ja selbst auf meiner Nase steht der Schweiß in dicken kugelrunden Perlen. Wasser, das nicht verdampfen kann, Schweiß, der nicht abfließen kann. Eine schmierige, luftundurchlässige Mischung aus Schweiß, Sonnencreme und dem Staub der Straße - unfähig, abzufließen, dicht wie Silikon, darunter der Hitzestau, darunter kocht mein Inneres.

So rette ich mich von Store zu Store, halte an, wasche mir den schleimigen Mantel ab, kühle mich herunter und muss mich doch wieder versiegeln, denn ohne Sonnenschutz zu fahren wäre hier glatter Selbstmord. Da könnte ich mich gleich in den nächsten Ofen setzen.

Dafür bleibt die Straße relativ flach. Ich komme sehr gut voran, auch, weil von den Bergen her ein ablandiger Wind von schräg hinten aufs Meer bläst, der mich teilweise kräftig anschiebt. Auch wird der Verkeher weniger, nachdem ich einen etwa zwei Kilometer langen Stau passiert habe, der dadurch verursacht wurde, dass etwa 500 Autos zugleich auf den parallel verlaufenden Expressway in den Bergen abbiegen wollten.

Auf einmal habe ich den schicken Asphalt wieder für mich allein - eine Wohltat, nachdem ich nun für einige Stunden inmitten eines nicht enden wollenden Blechwurms fahren musste.

In Strömen fließt das Wasser, aber ich zwinge mich, nicht zu überdrehen. Wie spät ist es? 13 Uhr? Dann ist die gröbste Mittagshitze bald vorbei. Und so, wie da die dunklen, feuchten und Kühlung versprechenden Wolken hinter den Bergen wabern, wird es gegen Nachmittag doch bestimmt kälter.

Und auf einmal finde ich den Gedanken an einen Regenguss auch gar nicht mehr so schlimm.

Auf der Eisenbahnplatte

Kühler wird es nicht. Dafür wieder schick. Die Sonne brennt wie eh und je, die dunklen Wolken trauen sich nicht über die Bergwand und so fahre ich weiter durch gleißende Strahlen, durch den dampfenden Pott, entlang am glitzernden Meer, vorbei an sattgrünen Reisfeldern, dieses Grün, dieses Grün, denke ich immer wieder, starre nach rechts, nach links, auf dieses unnachahmliche Grün ...


Die Straße windet sich durch die Ebene. Ich fliege vorbei an ungläubig schauenden Reisbauern, mache Halt zum Pinkeln an Bambushainen und beobachte einen riesigen, kindskopfgroßen Käfer, wie er aus einem der fast neonscheinenden Reisfelder behäbig hervor gekrochen kommt, um unter dem nächsten Busch wieder kühlenden Schatten zu finden.

Doch dann endet diese einsame, aber wunderbare Fahrt. Denn ich nähere mich dem Schlussakkord. Dem Höhepunkt. Die Etappe endet heute mit einem Knall, das war mir schon heute morgen bewusst, als ich auf meinen Google-Maps-Ausdruck geschaut hatte: Berge? Nein, das sind keine Berge. Das hier, das ist ein ganzes, kleines verdammtes Gebirge!


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Denn da, wo sich der Expressway in ein paar Tunnels durch das etwa 10 Kilometer Luftlinie langes Gebirge schlängelt - ebenerdig versteht sich - windet sich die Route 11 in unendlich vielen Serpentinen auf und ab, macht jede verdammte kleine Steigung mit und wird mir diese Etappe zur Hölle machen.

Ich weiß das, als ich am Fuße der ersten Steigung eine kleine Pause einlege.

Dann stürze ich mich wieder in die Vertikale. Ich trete gegen die Prozente an. Blut kocht in den Adern, Schweiß türmt sich zu gallertartigen Riesentropfen auf, ich dampfe, koche, von meinem Bauch aus steigt flirrend wie über einem Toaster am Morgen die Hitze empor, im Rückspiegel beschaue ich mir mein Gesicht, es ist rot, wie der Panzer eines Hummers, wenn er im Kochtopf gart.

Heiß ist es, kaum zu glauben, einige Autos überholen mich, am Klackern der Kolben höre ich heraus, dass auch deren Motoren zu tun haben, die Steigung zu bewältigen. Ich selbst nehme das alles nur noch wie durch einen Schleier wahr, versuche mich zu konzentrieren und habe dabei Angst, bei jeder Kurbelumdrehung, Angst, dass mein Knie aussteigt. Dass die Scheibe sich löst. Dass eine Sehne reißt. Dass ich aufgeben muss. Und das hier - mitten im Wald?

Dicht stehen die Bäume. Unten irgendwo, tief unten im Dunkel des Urwaldes kann ich einen Fluss plätschern hören. Weit, zu weit weg, um mich erfrischen zu können - hier oben, hier auf dem Asphalt steht die Hitze wie in einem Backofen.

Hoch über mir schwingen sich fantastische Brücken in hundert Metern Höhe, dort, wo die Autos wie Engeln gleich dieses Muskel-Massaker einfach und ebenerdig überqueren können, weitab von der Arbeit, die ich hier leisten muss, entrückt, wie in einer anderen Welt - und nun verstehe ich auch, warum sich die ganzen Autofahrer vorhin den Stau gegeben haben: Lieber ein paar Minuten stop-and-go, als sich hier nicht enden wollende, enge Serpentinen hinauf und hinab zu schlängeln.

Unglaublich, dass sich nur wenige Kilometer hinter diesem Waldchaos eine flache Ebene ausbreitet, ausladend, fast verschwenderisch, am Meer entlang fließt wie ein Gürtel, gesegnet mit grünen Reisfeldern, mit duftenden kleinen Wäldern - und hier, ein Kessel Grünes, eine dichte Atmosphäre aus Hitze, grüne Hölle, tiefer Pott, in dem die Luft steht, zum Schneiden, so dick und mir Widerstand leistet, mich aufhält, meine schmalen Felgen im Asphalt versenkt, selbst die Zeit zu Kaugummi werden lässt.

Grüne Hölle. Tunnelblick. Schweiß. Trinken, ich muss viel trinken. Tue das auch. Heiße Plörre. Erfrischung geht anders. Aber wie war das gleich? Die Beduinen in der Sahara trinken auch heißen Tee?

Matsuyama - und alles kommt ganz anders

Es dauert eine geschlagene Stunde, bis ich den Höllenkessel hinter mich gelassen habe. Ich schieße eine steile Abfahrt nach Toon City hinab, bin schneller als die Autos vor mir, mit 65 km/h geht es in diese letzte, siegreiche Abfahrt hinein. Hinter mir, ein Transporter, er setzt immer wieder zum Überholen an, aber schafft es nicht - zu gefährlich, bei diesen kurven, zu gefährlich, bei dieser Geschwindigkeit.

Ich taste mich langsam in den Windschatten eines vor mir fahrenden Trucks heran, kann endlich den schnell drehenden Beinen eine Pause gönnen und rolle, rolle mit Highspeed in die verdiente Stadt. Wie weit mag es jetzt noch sein? 15 Kilometer? Eher 20. Aber das ist okay.


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Route 11 zieht leicht nach Norden weg, während der Expressway, Straße der fliegenden Engel, nach Süden abknickt. Matsuyama, meine Zielstadt, ist schon ausgeschildert und langsam kann auch ich mich entspannen - es ist 15 Uhr, gleich wird die Sonne zwar untergehen, aber ich bin am Ziel. 16 Uhr, wenn es gut läuft, werde ich in der Stadt sein und kann schauen, ob noch eine Fähre geht hinüber nach Oita, oder ob ich hier bleibe, mir ein nettes, schickes kleines Hotelzimmer nehmen und mich in einer heißen Wanne entspannen kann ... entspannen ... Wanne ... welch´ herrliche Gedanken.

Ich passiere, wie gehabt, die Spielhallen, die Autohäuser, die Malls und die riesigen Parkplätze. Meterhohe Werbeschilder brüllen ihre bunten Zeichen in die Landschaft, Häuser stehen immer dichter, werden immer massiver, werden immer hässlicher und bekommen immer mehr Stockwerke - das untrügliche Zeichen, dass ich in einer Stadt fahre.

Dann sehe ich auf einem Verkehrsschild den Hinweis: Matsuyama Port. Aha, da gehts also zum Hafen. 15 Kilometer noch. Man, Mist, ich dachte, das geht nur noch geradeaus?!? Also los, was soll es. Dann wird es halt schon dunkel.

Dann, nach einer halben Stunde, das nächste Schild, es gibt mir Rätsel auf.
Links geht es zum "Matsuyama Port".
Rechts geht es zum "Matsuyama Kanko Port".
Mmh. Nun müsste man nur wissen, was Kanko bedeutet. Ich habe keine Ahnung, Kanko. Klingt si klein, so niedlich. Nach "Yacht" oder so. Also wird das der Sportboothafen sein? Keine Ahnung. Kanko kann auch "Fähre" heißen oder "Frachter".

Ich stoppe an einem Conbinistore und frage eine Kassenfrau.
"Konnichi-wa. Do you speak English?"
"Ie, no, no!", sagt sie lächelnd.
Ich gebe nicht auf: "I want to go to Oita."
"Oita! Hai, hai!", aha, Oita kennt sie.
"And i need a Ferry. A Boot. A Ship.", sage ich weiter und mache mit der Hand Wellenbewegungen.
"Hai, Ship!", lächelt sie wieder.
"And now - I go to Port or to Kanko-Port?"
Sie schaut mich fragend an. Und lächelt. Klar.
"I with Bike, Bicycle - Kanko-Port?"
"Hai, hai! Kanko-Port!", bestätgt sie.
Ich bedanke mich, verbeuge mich und gehe.
Also Kanko.
Oder auch nicht.


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Ich biege also zum Kanko-Port ab. Mittlerweile ist es schon mächtig am Dämmern und ich hoffe, ich bete, ich rufe es in die heraufziehende Nacht: Bitte lass noch eine Fähre gehen! Und dann stockt mir der Atem - das darf doch jetzt nicht wahr sein, oder?

Vor mir türmt sich eine Bergwand auf.
Nee. Stopp. Halt mal, jetzt mal ehrlich, Leute - ich bin hier heute 160 Kilometer gefahren, um auf den letzten zwei Kilometern noch eine 100 Meter hohe Bergwand erklimmen zu dürfen? Nee, leckt mich! Das darf doch nicht ... und dann sehe ich den Tunnel.
Na, Gottseidank!

Eine Viertelstunde später stelle ich meine Speedmachine in eine Ecke des Fährterminals des Matsuyama Kanko-Port. Und tatsächlich - Kanko heißt Fähre.

Es ist ein großer, moderner Glaspalast. Wenig los hier. Auf zwei riesigen LCD-Screens laufen Nachrichten und Mangas, zwei, drei Pärchen hocken auf den Bänken, ein Souvenirshop hat, na logo, Sauer Eingelegtes und allerlei Mitbringsel bereit.

Vier Schalter haben geöffnet. Ich gehe zum Schalter 1, an dem die Strecke Matsuyama-Oita ausgeschildert ist.
Ob denn heute noch eine Fähre ginge, frage ich den Bediensteten.
Nein, heute nicht mehr. Erst morgen früh, 7 Uhr.
Ich überlege - wieder zurück, ins Hotel und dann morgen 7 Uhr nach Oita? Aber dann kalkuliere ich - die Fahrt dauert mindestens 4 Stunden, sodass ich gegen 11 Uhr in Oita ankommen würde. 11 Uhr - und dann noch 150 Kilometer nach Kumamoto zum morgigen Etappenziel? Das schaffe ich nicht mehr im Hellen.
Mmh.

Ich schaue einen Schalter weiter. Von der 2 aus geht es nach Hiroshima. Einfach nur 3 Stunden nach Norden - Hiroshima. Ziel meiner Radtour. Aber viel zu früh, wenn ich heute schon hinfahren würde.

Einen Schalter weiter, an der 3, geht es nach Kokura. Kokura, die Stadt, die am nördlichsten Ende der Insel Kyushu liegt. Und ein Etappenziel, das ich eigentlich erst für in drei Tagen geplant habe, um von hier aus in weiteren 2 Etappen nach Hiroshima zu kommen.
Mmh.
Ich frage, wann denn dann die Fähre gehen würde.
22 Uhr, sagt die Dame.
22 Uhr, rechne ich, das ist in 5 Stunden.
Eine Nachtfahrt, bequem irgendwo schlafen, dann ankommen und ... was weiß ich, wohin ich von Kokura aus fahren kann, aber alles besser, als hier heute ein teures Hotel zu nehmen, nur um morgen nur 100 Kilometer fahren zu können.
Ich kaufe das Ticket.

Zumindest versuche ich das. Denn alles, was ich bekomme, ist wieder nur ein Antrag auf ein Ticket. Der Schalter, an dem ich das Ticket kaufen kann, sagt mir der Beamte, öffnet erst 21 Uhr. Aha.

Also nutze ich die Zeit. 3 Stunden, da habe ich schon schlimmeres erlebt.
Ich bummle durch den Souvenir-Shop und entdecke Postkarten. Wow, ich dachte, so etwas gibt es nicht in Japan? Gesehen - gekauft.
Dannn setze ich mich hin und schreibe den Lieben daheim ein paar Zeilen.

Essen.
Sitzen.
Schauen.
Langweilen.

Fast dämmere ich weg, als mir der Gedanke kommt, mich zu waschen - immerhin habe ich für die fast 8 Stunden dauernde Überfahrt nach Kokura ein "Single Bed" reserviert. Und da drin möchte ich nicht im Schleim der vergangenen 160 Kilometer liegen.

Gesäubert, aber nicht weniger müde, sitze ich später wieder in den sagenhaft unbequemen Sesseln, starre die Japaner an, die mich anstarren, bin wie immer der einzige Ausländer hier, sie tun so, als sähen sie mich nicht, dabei weiß ich, dass sie mich, mein Rad und dann wieder mich mustern, von oben bis unten.
Gaijin im Zoo.
Mir ists egal.

Dann, irgendwann, ich stecke im Zeitenfluss, der so zäh wie flüssiger Asphalt ist, kann mich nur schwer wach rütteln - dann irgendwann legt eine riesige Fähre an. Öffnet ihren Schlund, speit Trucks ohne Ende aus, Autos, Motorräder und alles Mögliche und Unmögliche, was Räder und Füße hat.

Mit meinem Ticket in der Seitentasche stehe ich da. Dunkel ist es. Stockdüster. Nur das Neon des Kanko-Ports erhellt die Szene. Warm ist es trotz der Nacht noch. Frieren unmöglich. So stehe ich wieder da, bis, ja bis mich endlich einer der Arbeiter an Bord winkt.

Und mit den letzten Kurbelumdrehungen des Tages rolle ich in den Bauch der Fähre, kette mein Rad an, klaube ein paar Sachen aus meinen Taschen und steige die Treppe empor, auf der Suche nach meinem "Single Bed".

Wie man sich bettet ...

Es ist ein turnhallengroßer Tatami-Saal, in den ich stolpere. Auf etwa 200 Quadratmetern haben sie hier die obligatorischen Keilkissen und eine Decke bereit gestellt. Das alles für 5.000 Yen. Neonlicht gleißt durch den Raum.

Es ist noch leer, nur zwei, drei andere Herren sind am gegenüber liegenden Ende des Saals angekommen und machen sich sogleich daran, sich bettfertig zu machen. Da die Räumlichkeiten hier streng nach Geschlecht getrennt sind, stört sich hier auch niemand daran, als die beiden anfangen, sich aus- und umzuziehen. Im Pyjama schlurft der eine gemütlich den Gang hinaus zu den großen Waschräumen. Im folgt der Andere - in einen traditionellen Kimono gehüllt.

Ich bin fertig. Die Tour steckt mir in den Knochen. Schweiß glänzt wieder auf meiner Haut, die Augen schmerzen, jede Sekunde, die sie offen bleiben müssen, kostet mich unendlich Kraft.

Ich denke an daheim, als das Schiff sich irgendwann endlich mit leichtem Schwanken daran macht, die See zu erobern. Ich denke an daheim, an die Leute, die mich lieben, die ich liebe, und ich denke daran, wo ich gerade bin - mitten in einem Land, das mir so fremd ist, mir wohl immer fremd bleiben wird. Ein Land, in dem ich der Gaijin bin. Allein. So allein, wie hier, an die weiße, sterile, etwas speckige Wand gelehnt, nachdenklich, jetzt, da der Tag vorbei, der Trubel vergangen ist und mir wieder bewusst wird, wie sehr dieses nicht reden können an mir nagt.

Wenig später, ich hatte mich schon hingelegt auf die nur spärlich dämpfende Matte, stehe ich auf und wanke klackernd durchs stille Deck. Nur das Schnarchen aus den Sälen beiderseits des Ganges, das dumpfe Dröhnen der mootonen Motoren und das Schwanken im Seegang verraten, dass das hier kein expressionistischer Traum, sondern die Realität ist.

Ist es die Müdigkeit, die mich so abspacen lässt?, frage ich mich, als ich mir am Automaten eine heiße Nissin-Nudelsuppe ziehe und ein kaltes Calpis-Water dazu. Was macht dieses Land mit mir? Tagsüber, wenn ich fahre, unterwegs bin, mich abrackern kann und etwas zu tun habe, mich quäle, die Steigungen hinauf, irgendwo auf den langen Geraden zwischen den Monsterstädten, da ist es kein Problem. Ich habe zu tun, bin beschäftigt, ein Reisender. Hastig zieht dieses fremde Land an mir vorbei.
Vielmehr, hastig ziehe ich durch dieses fremde Land.

Aber dann, wenn es still geworden ist, ich ruhe, nicht mehr trete, nicht mehr kurbele. Dann kommen die Gedanken, versuche ich, alles zu ordnen, alles zu begreifen. Aber kann ich das hier überhaupt begreifen? Diese Kultur, die so fremd ist, dass ich selbst jetzt keine klaren Worte finde.

Diese Einsamkeit, die mir so schäbig vorkommt. Immerhin sind hier alle, wirklich alle, ausnahmslos freundlich zu mir, tun alles, um mir zu helfen, sind stolz auf ihr Land und fühlen sich irgendwie geehrt, dass ich, der weiße Gaijin mir die Zeit nehme, es per Rad zu entdecken.

Und doch - öffnen, in sie hineinsehen, sie lesen, das werde ich niemals.
Japan, es wird mir immer verschlossen bleiben.

Kokura - gestern, heute ... morgen?

Ich schlafe ein, zwei, drei Stunden. Dann, es ist gegen 4 Uhr, wache ich auf und liege im Halbschlaf unter meiner Decke. In einer Stunde werden wir ankommen. In einer Stunde werde ich mir irgendwo ein Hotel suchen, ausschlafen und dann, dann werde ich am Tag versuchen, meine Etappenplanung, die ich nun mit der Fahrt nach Kokura ad absurdum geführt habe, wieder in den Griff zu bekommen.

Ich wische benommen die letzten Traumfetzen hinfort, ziehe mich an und begebe mich an Deck.

Eine laue Morgenluft umhüllt mich. Frische. Ich sauge sie ein. Ich sitze da mit einem heißen Automatenkaffee. Hinter uns schäumt luminiszent das Wasser auf, an der Küste glänzt eine Perlenkette in der Schwärze. Wo Wasser aufhört und Himmel beginnt, ich kann es nur der Spiegelungen wegen sagen.

Verschließe ich meine Augen so, dass ich nur durch einen schmalen Spalt blinzele, sieht es aus, als streife ich mit einem Raumschiff am Rande der Milchstraße entlang. Draußen im Weltraum, luftleer, kalt. Außen. Außerhalb. Weitab unserer Heimat.
Ein Gefühl, das dem sehr nahe kommt, was ich gerade empfinde.

Einsamkeit, hier an Deck, hier heute in dieser klaren Nacht, hier spüre ich sie wieder, frage mich, was hier noch allen kommen wird und versuche, dieses ekelhafte Gefühl loszuwerden, das mir da schwer im Bauche liegt, das meine Speiseröhre hinaufquillt, ein ungutes Gefühl: Du hast die geplante Strecke verlassen! Nun sieh mal zu, wie du das gerade biegen kannst.

Nein, gut fühle ich mich nicht.
Und auch wenn ich mir einrede, dass ein tiefer, langer Zug frischer Luft durch die Nase das alles schon besser machen wird, es ist nicht so.

Und ich hoffe, dass heute, nachher, gleich, wenn ich ausgeschlafen aus meinem Hotelzimmer in die schöne, wärmende Sonne blicke, dass dann wieder alles besser sein wird.

Gefahren: 169,53 km in 6:48 Stunden mit einem 25er Schnitt - und ein paar Stunden Fährfahrt.