Ganbatte!

Tag 6/Etappe 4 - Nach Tokushima auf Shikoku.

Eines muss ich mal festhalten, denke ich mir, als ich mich 5 Uhr noch benommen in meinem Bett herumwälze und mir klar wird, dass ich in einer Stunde aufstehen muss - ich habe ein Drittel meiner Tour geschafft. Wahnsinn, so schnell vergeht die Zeit? Ja, so schnell vergeht sie!

Ein Drittel vorbei.

Und obwohl ich dieses mal wirklich clever meine Klamotten gepackt habe und, anders als in Portugal oder in Kanada, nur das Nötigste mitgenommen habe, könnte ich auch bei diesem Trip wieder so einiges monieren: Bei 22 Grad mit Wollsocken und Wollunterwäsche die Nacht verbringen zu wollen, ist ebenso bekloppt wie unmöglich. Abgesehen davon, dass ein 2 kg-Schlafsack, der bis -25 Grad getestet ist, im Hochsommer alles andere als Schlaf bietet.

Meine ganze Abteilung "Zivilklamotten" ist ebenfalls überdimensioniert: Anstelle der schweren Jeans hätte ich was Leichteres einpacken können.

Na, wenigstens bin ich unter 15 kg Gepäck geblieben, denke ich, anders als damals, bei meinem ersten Trip durch Portugal, als ich noch Rookie war, grün hinter den Ohren und keine Ahnung vom Tourenfahren hatte.

Die rot blendenden Digits des Weckers verraten: Es ist 5:30 Uhr und ich beschließe, doch schon aufzustehen.

Bereits 5 Minuten nach 6 sitze ich abseits der Straße an einem Family Mart und "frühstücke".

Na klar, es gibt meinen Macchiato aus der Plastikdose. "Mount Rainier", meine Stammmarke, passt auch irgendwie zu dem Bergpanorama, dass sich da mir gegenüber am Horizont drohend aufbaut.

Dazu gibt es den frischen Schoko-Banane-Kuchen (3 Stück) und leckeren O-Saft für den Vitaminschub. Ich glaube, ich werde das alles heute noch gut gebrauchen können.

Es gibt noch kein Fühstück im Castle Inn um diese Zeit. Bei der Verabschiedung hatte mir der nette Rezeptionist noch im Verabschiedungsverbeugen "Ganbatte!" hinterhergerufen. Nach dem obligatorisch-staunenden "Sugoi!" das Wort, das sie mir hier am häufigsten gebrauchen, wenn sie mich sehen, diese Japaner.

Ganbatte - Übersetzt so viel wie "Kämpfe! Halte durch! Auf gehts!"

Nun denn, denke ich mir. Dann wieder mal ... Ganbatte!

Der Verkehr steckt noch in den Kinderschuhen, dafür ist die Sonne erstaunlich aktiv heute morgen - zwar knallt sie schon herunter, als nähere sie sich dem Zenit des Tages, aber so richtig schwitze-heiß kann sie die Atmopshäre noch nicht aufheizen. Mein Glück.

Ich schaue auf die Karte. Zunächst geht es etwa 10 Kilometer durch die Stadt zurück. Dann muss ich rechts auf die Route 165 abbiegen, die mich - und hier sind sich mein Google-Maps-Ausdruck und die Karte einig - durch einen Gebirgszug bringen wird. Viele Schlängellinien vollführt die Straße da auf dem Papier. Und Schlängellinie, so viel weiß ich, bedeutet "Höhenmeter & Wadentod".


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Doch zunächst versuche ich, Tsu zu entkommen. Ich trete mich durch das urbane Gewirr aus abenteuerlich verlegten Telefonleitungen, reite eine Abfolge meist roter Ampelkreuzungen ab und überquere zwei lang gezogene Brücken, deren Auffahrten mich jetzt schon aus der Puste bringen.
Irgendwann, etwa eine halbe Stunde nach dem Frühstück, beginnen die Gebäude kleiner zu werden, Beton weicht Holz, immer mehr Solitäre zwischen den Häusern füllen sich mit dem saftigen Grün feuchter Reisfelder und vor mir taucht das dunklere Grün tiefer Wälder auf, die sich vorn noch über sanfte Hügel, dahinter jedoch über steile, spitze Berge schieben.

Ein Blick nach rechts verrät, dass ich längst schon, eher unbemerkt, Höhenmeter mache. Und dieses eher sanfte Steigen der Straße kann auch ruhig so bleiben, wünsche ich mir. Sehe ich nach vorn merke ich, dass das nur ein frommer Wunsch ist.

Heute fahre ich nach Westen. Die Präfektur Mie durchquere ich, bis nach Wakayama, einer Stadt am äußersten Zipfel der Halbinsel Kii-hanto will ich.

Ich werde dann die Präfektur in Richtung Osaka verlassen, aber vor diesem Riesenmoloch, der sich ähnlich wie Tokio in der gesamten Bucht (Wan) wie ein Geschwür ausbreitet, etwa in Höhe Nara, der ältesten ehemaligen Hauptstadt Japans, nach Süden umschwenken, um durch das Tal des Flusses Kino-kawa an die Küste vorzudringen. Osaka muss nicht sein. Und jeder, der sich diese Stadt mal auf einer Karte angeschaut hat, kann meine Entscheidung wohl verstehen.

Geplant ist, in der letzten Stadt vor Wakayama - Kokawa - irgendwo zu zelten, um dann morgen in aller Frühe zum Hafen und auf die Fähre zu rollen. 150 Kilometer, sagt Google. Und Google sagt auch, dass da heute 3.400 Höhenmeter anstehen. Was ich nicht ganz glauben kann, denn selbst die härteste Etappe in den kanadischen Rockies hat mich "nur" 2.400 Höhenmeter gekostet.

Aber, ich ahne, ich ahne, dass, auch wenn diese 3.400 Meter ziemlich weit hergeholt sind, sie nicht von ungefähr kommen.

Leise zieht durch mein Gemüt ...

... ein lautes "Ach du Scheiße!"

Zunächst verschwinde ich im Wald. Die Straße knickt mehrmals in die eine oder in die andere Richtung ab, windet sich zwischen saftigen Bäumen hin und her und zieht merklich an. Der Gradient fährt mir in meine Knochen - der Aufstieg beginnt.

Konnte ich bis eben noch mit 25, 20 km/h fahren, so muss ich jetzt all meine Kraft aufbringen, um überhaupt noch vorwärts zu kommen: 6, 7 km/h stehen da in digitalen Lettern vor mir und ich beginne zu schwitzen. Das alte Spiel: Runterschalten, ruhig bleiben, nicht überdrehen.

Gottseidank bin ich heute schön früh losgefahren, denke ich mir, als ich zur Seite schaue und mir besehe, in was ich da reingeraten bin: Ein riesiges Gebiet, nur Wald und Berge. Keine Stadt, kein Dorf, ich sehe nichts. Der einzige Hinweis darauf, dass dies hier nicht der nur von Ewoks bewohnte Waldmond Endor aus Star wars in irgendeinem fremden Planetensystem sondern eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt ist, sind ein paar Windräder, die man strategisch günstig auf einem Berg platziert hat und Strommasten, die Energie in entlegene Regionen bringen.

Ich genieße den kurzen, freien Blick nach drüben, dann schon führt mich die nächste Serpentine wieder in dichten Wald. Etwas Gutes hat das ganze - ich bin im Schatten. Denn mittlerweile ist es unerträglich geworden, in der prallen Sonne zu treten.

Dennoch: Ich bin guter Dinge. Lange kann das hier ja alles nicht mehr gehen, ich bin ja hier nicht in den Alpen oder den Rockies, wo ich 1.400 Meter hohe Pässe bezwingen musste - hier sind die Berge höchstens 600, 800 Meter hoch. Und die sollte ich doch langsam geschafft haben?!

Ganbatte!, denke ich und trete rein.

Da kommt die nächste Kurve, sie erscheint über mir, etwa 1.000 Meter entfernt. Und sie sieht so aus, als wäre das der Kamm. Der Pass. Der Sieg über die schräge Ebene. Ich bin motiviert, ziehe hastig einen Schluck Vitamin-Water aus meiner Flasche, umfasse mit meinen rutschigen Handschuhen die Griffe meines Tiller-Lenkers und trete rein.

Langsam nur, in Zeitlupe, schneckenartig und wie Gummi gedehnt schiebe ich mich Zentimeter um Zentimeter dieser Kurve entgegen. Die Autos, die mich von Zeit zu Zeit überholen, nehme ich gar nicht mehr wahr. Dann, Minuten vergehen, fühlen sich an, wie Stunden, dann endlich, fahre ich ein, in die Kurve. Erwarte das Abflachen der Steigung. Erwarte den Kamm. Und die Abfahrt ...

Und sehe mich der nächsten Rampe gegen über. Einer, die in einem Tunnel verschwindet. Wieder 500 Meter Kaugummizeit mit Kaugummibeinen überbrücken, wieder einhundert mal treten für einen Meter Landgewinn. Wieder die brennenden Lungen mit Luft füllen, die nicht kühlt, sondern deren Sauerstoff das Brennen nur noch weiter trägt, über die Blutbahn in die Waden, in die Schenkel.

Unter 9 % Steigung fängt der Japaner gar nicht an, auch nur an die Planung einer Straße zu denken, habe ich das Gefühl. Kann das sein? Ist hier alles wirklich um so vieles steiler, als in den Rockies? Hatte ich mich so getäuscht, als ich nach meinem Kanada-Trip dieses Land ausgesucht hatte - seiner grundverschiedenen Kultur, der Fremde, der Schriftzeichen mir voll bewusst, aber nicht wissend, dass mich hier scheinbar hinter jeder Kurve eine Rampe erwartet, die man, würde man sie als Abfahrt nutzen, auch gut und gerne als olympische Super-G-Strecke ausbauen könnte?

Schales Grinsen zuckt mir zynisch über die Lippen. Ich erreiche den dunklen Eingang in den Tunnel. Schnell angehalten und den Dyamo angestellt, dann fahre ich ein.

Es ist kaum kühler als draußen. Geräusche werden tausendfach verstärt - Autos klingen wie startende Düsenjets, Trucks grollen bösartig wie der Untergang des Abendlandes, alles schwillt an, wenn sie sich anschicken, sich mit mir in der Mitte des Tunnels zu treffen, wird lauter und lauter und steigert sich zu einer Kakaphonie des motorisierten Irrsinns, zum Höhepunkt getrieben von blendendem Abblendlicht, zuckenden Blinktlichtern und flammenroten Rücklichtern, die an mir vorbeischießen.

Nur der Fahrtwind der anderen scheint meinen Schweiß trocknen zu können. Irgendwann habe ich die Röhre verlassen, sehe das Licht am Ende des Tunnels, freue mich auf die Abfahrt, beschleunige sogar etwas, komme näher, und näher, und näher ...

... und bleibe wiederum in einer Steigung stecken. Verdammt - heute wird mir also nichts geschenkt.

Die Straße dreht sich, windet sich Abhänge hinauf, mal mehr, mal weniger stark, die Bäume flüstern im Wind, schlanker Bambus raschelt neben mir und die scharfen Gräser zu ihren Füßen zischen Beifall. Mein Publikum, meine Fans - die Natur, die hier das Sagen hat, sie feuert mich an, während ich sie alle paar Meter mit Tropfen von Schweiß benetze, meinen Tribut zolle, meine Kraft wie harte Währung an den Anstieg bezahle.

Irgendwann - ich habe mich schon dem kräfteraubenden Auf und Ab hingegeben, alle Hoffnung auf eine schnelle Etappe aufgegeben, irgendwann knickt sie dann unter mir ab. Auf einmal, überraschend, einfach so - der Asphalt, in dem ich eben noch zu versinken drohte, Angst hatte, umzukippen, da ich nicht mehr schnell genug voran gekommen bin, er wird nun zu meinem Verbündeten, schiebt mich an, erst langsam, dann merklich, dann rasant.

Ich komme gar nicht mehr hinterher, hochzuschalten, vielleicht, weil ich noch misstrauisch bin, ob nicht doch noch hinter der nächsten Kurve wieder eine Steigung wartet, aber es wartet nur noch mehr Downforce. Es knallt der Wind in meinen Ohren, augenblicklich trocknet das nasse Trikot, ich kann mich zurück lehnen, ganz den Sitz meines Liegerades ausfüllen, aufhören zu treten und es genießen, diese Orgie in Grün ganz ohne Kraftanstrengung bei 45 km/h durchfahren zu können.

Es stehen 45 Kilometer auf meinem Bike-Computer.
45 Kilometer durch Wald.
45 Kilometer nur Berge mit Mördersteigungen.

Hallelujah!
Ganbatte!
Ganbatte-popee.
Klomee-klomee.

Es ist sehr heiß. Hier in meinem Kopf. Aber wenigstens mache ich wieder diese bescheuerten Captains-Durchsagen ...

Präfektur Mie - vom Waldparadies und das ländliche Japan

Ich schieße aus dem engen Waldtal heraus und drehe etwas nach Süden. Die Sonne, die ich heute morgen noch halber im Rücken hatte, sie scheint nun direkt über mir auf mich herab, weicht meine Styropor-Schale vom Helm auf, habe ich das Gefühl, brennt danieder und lässt meine Füße, die ich mir vorgestern so verbrannt hatte, wieder krebsrot werden, obwohl ich gerade an dieser Stelle schon 5 Zentimeter Sonnenmilch aufgespachtelt habe.

Neben mir, unter mir, über mir eine irgendwie neue Natur: Der Wald, für den Mie berühmt ist, scheint hier, hinter dem Gebirgszug, den ich gerade überquert habe, anders zu sein - dichter, grüner, satter.

Allenthalben sehe ich Baumstämme, die man nach dem Fällen zum Trocknen abgelegt hat. Forstwirtschaft scheint hier eine große Wirtschafsquelle zu sein.

Es geht wieder hoch und runter. Die Steigungen werden fieser - bissige, garstige Rampen, kurz zwar, aber dafür steiler. So steil, dass ich sogar auf das kleine Blatt wechseln muss und allenthalben mit 4 km/h, hart an der Grenze zum Umfallen, mich diese Stücke hinaufschraube. Dann versinke ich im eigenen Schweiß, der nirgendwo ablaufen kann, der durch keinen Windzug getrocknet wird. Dann steigt die Hitze wie aus einem geöffneten Pizzaofen von meiner glühenden Brust auf, brennt förmlich in meinen Augen, die ständig blinzeln müssen, um den Wasserschwall der Tropfen, die unter dem Helm nur so hervorquellen, loszuwerden.

Es ist eine Tortur, die selbst die kurzen, aber rasanten Abfahrten nicht mildern können.

So geht das, bis ich das erste Dorf erreiche. An der - ich freue mich wie ein Kind! - ersten Lawson Station mache ich Halt, setze mich und spüle mir auf dem blitzblank geputzten Klo erst einmal den Kopf ausgiebig mit kaltem Wasser.

Als ich den ersten Schwall Nass auf meinen Schädel bringe, kann ich es regelrecht zischen hören.
Gesäubert, leicht erfrischt, plündere ich das Regal kalter Getränke, kaufe mir 4 Bananen, einen Haufen Kuchen, süß, süßer, am süßesten und sitze wenig später auf dem Bordstein vor dem Conbini-Store.

Was ich jetzt brauche ... ist ... na klar ... ein ... äh ... Protein-Water:

Wieder so ein geniales japanisches Produkt. Außer dem Namen ist leider wieder alles in Kanji geschrieben, aber ich kann so etwas wie eine Inhaltsstoff-Tabelle entdecken und, obwohl ich keine Ahnung habe, welche Vitalstoffe genau da drin sind, scheint dies tatsächlich ein Vitamin-Drink für Sportler zu sein, der - und da wird es interessant - mit proteinhaltigen Auszügen aus der Milch versetzt ist. Und das, so finde ich, ist eine so geniale Idee, dass man das einfach mal probieren muss.

Die Konsistenz ist saft-artig. Es schmeckt erfrischend, sehr erfrischend, obwohl keinerlei Kohlensäure enthalten ist. Eine leicht säuerliche, aber leckere Note prickelt auf der Zunge, die vollmundig abgerundet wird durch trauben-artige Nuancen, die das Bild komplettieren.

Lecker!

Ich sitze noch eine Weile, esse und trinke, schaue und staune. Ein paar ältere Japaner kommen zu mir, schnacken mich an und freuen sich, wie immer, dass ich aus Deutschland komme, wünschen mir weiterhin eine gute Fahrt und alles Gute. Ich winke und verbeuge mich, wenn sie den Parkplatz verlassen.

Im Dorf sehe ich traditionelle japanische Häuser - Holz, innen Tatami, geschwungene Dachfirste und reich verzierte Balken, davor, herrlich, Steingärten oder Bonsai-Ansammlungen, die in Deutschland preisverdächtig wären.

Weiter geht es, ich fühle mich mittlerweile nur noch halbwegs fit, halbwegs erfrischt und halbwegs motiviert. Die beeindruckende Landschaft weicht immer mehr mehr auf, das Tal, durch das ich fahre, öffnet sich, die Berge drängen zurück.

Ein ums andere Mal überquere ich einen Fluß. Mal sehe ich stolze Reiher in ihm stehen und watend auf Beute warten, mal Angler, die mit langen Routen ihr Glück versuchen.
Dann, meist an einem der vielen Knicks des Flusses, geht es wieder eine fiese Steigung hinauf, an der anderen Seite rasant hinab und ich habe wieder für ein paar Kilometer Ruhe.

Bis ich Nabari erreiche, eine Schlüsselstelle meiner heutigen Etappe. Die Stadt trifft wie eine Keule. Mie, das Waldparadies, haut sie tot, einfach so, Paff! Bamm!, kein Wald mehr, ich betrete das Betonchaos, den Moloch, den Krebs, den man Menschen nennt.

Auf ein mal sind sie wieder da, die Autos, die Trucks, die vielen bunten Schilder, die mich grell anschreien, zuckende Schriftzeichen, um Käufer buhlend, die mit Unterstützung aller möglichen Mangahelden von den Masten, Pfählen und Wänden drohen "Kauf mich, sonst ...!"

Ich muss kurz stoppen, um das zu verarbeiten. Waldpräfektur Mie, hier hat sie ein Ende.

Ein Schild erzählt mir, dass es bis Sakurai noch 28 Kilometer seien. Sakurai, ich schaue auf die Karte, ist eine Stadt vor Kashihara in der Präfektur Nara. Sakurai, das ist nicht einmal die Hälfte meiner Etappe. Ist nicht einmal in der Mitte der Kii-Hanto, der Halbinsel Kii. Und ich, da brauche ich keinen Pulsmesser, bin schon fertig für heute.

So viel noch zu fahren? Wie soll das gehen?

102 Kilometer stehen auf meinem Tacho. Und ich schüttele mit dem Kopf, als ich mit meinem Finger die Reststrecke abfahre bis kurz vor Wakayama, meinem Etappenziel. Verdammt - habe ich mich denn wirklich so übernommen heute? Hat mich die Überquerung dieser Gebirgswand heute morgen bei Tsu schon so ausgepowert? Haben mich die ganzen Rampen, die ich mich eben stundenlang durch Mies Wälder kämpfen musste, so fertig gemacht?

Genervt strampele ich unrhythmisch durch die Stadt. Genervt, weil mich irgendwie die Kräfte verlassen haben, weil sich meine Waden wie Gummi anfühlen, weil ich in keinen runden Tritt finden kann und weil ich nach läppischen hundert Kilometern schon einzubrechen drohe.

Die Autos tun das ihre. Sicher, sie können mir nichts anhaben, die Fahrer versuchen ihr bestes, mich nicht zu gefährden, aber Abgas und das ständige Dröhnen im rechten Ohr machen mich aggressiv. Die Stadt nervt. Dieses grelle bunte Werben an jeder Ecke - immer, egal wie man hinschaut, schreit mich ein Bild an, wirbt eine Abfolge unverständlicher Schriftzeichen für irgendwelche Produkte, sinnentleertes Englisch tut wie Marke, hauptsage ein Registered-R und ein bisschen Englisch spielen.

Ich will wieder Natur! Ich will wieder Berge! Wo ist die berühmte Waldpräfektur? Wo sind ist Dein Grün, Mie?

Da ist es, da kommt es. Hinter Nabari wiederholt sich, was vor Nabari mir schon den letzten Saft aus den Adern gezogen hat: Berge, Steigungen, schmale Straßen, mal abendteuerlich in Bergflanken gefräst, mal breit und komfortabel am Fluss entlang geschlängelt.

Ich kann wieder atmen. Nicht frisch, zwar, eher miefig schwere Mittagshitze, aber das alles ist besser, als im Smog in Auspuffhöhe alle zweihundert Meter an roten Ampeln in Feinstaubwolken zu stehen und angeglotzt zu werden.

Nein, heute ist nicht mein bester Tag.
Ganbatte? Nee!

Bring mir Reis!

Irgendwann war es das dann mit den Bergen. Irgendwann, ich glaube, es ist Kashihara, weichen die Berge zurück, endgültig, irgendwann verlasse ich den Trichter, der das eng geschnittene Tal war, fahre ein in gleißendes Licht, in ein anderes Grün - in einen Teppich aus Reis.

Soweit mein Auge blicken kann. Reis. Reisfelder in allen Stadien des Pflanzenwachstums. Die quadratischen Felder leuchten in feinstem Grün, ein Teppich sanft wogender Nutzpflanzen, hier und da scheint die satte Feuchtigkeit durch, das die Wurzeln durchtränkt, hier und da schaut ein Bauer hervor, sehe ich verkrümmte Rücken von Arbeiterinnen, die in mühevoller Arbeit die Pflanzen pflegen.

Selbst bis in höhere Lagen der Berge, die dann und wann meinen Weg säumen, haben sie die Reis-Terrassen gebaut. Beeindruckend schwingen sich die Felder in die Wälder. Wie viel Reis mag ein solches Quadrat liefern? Wie oft kann man es pro Jahr abernten?

Fast tränen mir die Augen, wenn ich am Horizont leuchtendes Grün des Reises mit grellem Hellblau des Himmels sich paaren sehe, es flattern die Farben, ekstatisches Spiel im Kontrastraum, es lenkt mich ab von meinen Schmerzen, von meinem Leid. Leid, das in Schweißtropfen mir den ganzen Körper hinab läuft, eine milchige Flüssigkeit bildet, wenn sich Körpersalz, Sonnenmilch und Schweißwasser mischen.

Ich sehe meine Energie aus allen Poren treten. Verloren.

Wegschauen, wegdenken, abschweifen - ich rette mich in das satte Grün, überdimensionaler Teppich, Riesenrasen, Golfplatz aus Käferperspektive.

Ich versuche, mich zu motivieren. Oder besser, einen Weg zu finden, nicht dieser kleinen Stimme in meinem Kopf nachzugeben, die mir sagt, dass es völlig okay wäre, heute auch mal bei 120 Kilometer die Etappe zu beenden.

Eine Stimme, die mir sagt, dass nicht weit von hier, vielleicht in nur 15 Kilometer Entfernung, Nara liegt. Nara, die Stadt, die dieser Präfektur ihren Namen gibt, ist eine der schönsten und ältesten Städte Japans, zumal eine ehemalige Hauptstadt. Berühmte Schreine und Tempel fänden sich dort, eine tolle Gelegenheit, den Frevel, achtlos an den Ise-Schreinen vorbeigefahren zu sein, wieder wett zu machen. Sagt die Stimme.

Ich wehre sie ab. Trete gegen sie an, starre ins Grün, versuche im Verschmelzen der Pflanzen Muster zu sehen, den einzelnen Halm im Ganzen zu erkennen. Minuten vergehen. Minuten, die zu Kilometern werden. Gedanken, kurze Blitze sonst, die zu stundenlangen Mentaldialogen mutieren.

Ich denke mich in Trance.

In Trance. Eine Trance, die anhält, bis ich das letzte - so erfahre ich einige Minuten später- enge Tal durchquere, die letzte Steigung erklimme, die letzte Wand überspringe, bis ich am Ziel angekommen bin. Am Ziel?

Am Ziel? So schnell gebe ich auf? So schnell wird aus einem Etappenpunkt, einer Station, die man passieren will, ein Ziel? Welches Ziel? Das hier? Ist nicht mein Ziel, nein, auf dem Ausdruck meiner Etappen-Bibel steht etwas anderes.

Ich kurbele wie ein Berserker, als ich die Wand erklimme, an deren Ende, weit, weit über mir, ein Tunnelloch schwarz prangt. ich komme kaum in den zweistelligen Geschwindigkeitsbereich, schüttele den Kopf, nein, nein! Bin ich wirklich so fertig, dass ich jetzt, hier - gerade mal 13 Uhr - schon die Etappe abbrechen muss?

Schlimmer noch: Abbrechen will?
Ganba...

Ach, leckt mich doch!

Totpunkt Nara

Ich erreiche Nara. Tot. Das Chaos, die Straßen, der Lärm, der Staub, die Abgase, das Geknatter der Mopeds, das Starren der Leute, das Winken der kleinen Schulkinder, das Ausflippen der Schulmädchen, die Trucks, die grelle Werbung, die schreienden Schriftzeichen, meine toten Beine, die durchnässten Klamotten ... es kann mich alles nicht mehr anheben, als ich automatisch angetrieben, dabei völlig leer gepumpt in die Stadt einfahre.

Mehr rolle, den fahre.

Mehr getrieben bin, denn willentlich gesteuert. Selbst ein kleines Grinsen erspare ich mir, denn jede unnötige Bewegung, jedes Muskelzucken, das nicht zum Vortrieb meines Liegerads beiträgt, wäre unnötige Verschwendung wertvollster Ressource.

So fühlt er sich an, der Totpunkt.

Ich kann kaum noch treten. Anfahren, zum Beispiel nach einer Rotphase an einer Ampel, bereitet mir Schmerzen. Peinlich, irgendwie, vor allem, wenn neben mir noch fünf andere Radfahrer stehen, die "Speedmachine" auf meinem Rohr lesen - und der Typ noch nicht einmal mit deren klapprigen Baumarktschüsseln mithalten kann. Peinlich, wenn man con elfjährigen Schulmädchen an einer Kreuzung abgezockt wird.

Aber so ist es, wenn man fertig ist.

Ich kann mich kaum noch motivieren, auch nur noch eine weitere Umdrehung zu machen. Die Beine kurbeln wie automatisch - ich selbst stecke nicht mehr hinter ihren Bewegungen. Ich atme schwer und kurz. Es ist nicht so, dass ich außer Puste wäre, im Gegenteil, nur ich kann einfach nicht mehr. Es drückt mir auf den Lungen, als wenn ein Sumo-Ringer auf mir Platz genommen hätte. Jede Bewegung verlangt unmenschliche Kräfte, selbst normale, reflexartige Bewegungen, wie das Balancieren des Liegerades, das sonst selbstverständlich abläuft, muss ich nun unter größter Anstrengung bewusst ausführen.

Hitzeschlag?
Hungerast?
Dehydration?

Scheint, als käme hier heute alles auf einmal.

Irgendwo hinter Nara, Kashihara oder wie diese Megacity hier heißen mag, irgendwo da finde ich, wonach ich die ganze Zeit Ausschau gehalten habe: Einen Parkplatz, halbwegs ruhig, Bäume, Rasenflächen und ... Erholung.

Ich stoppe.

Total verschwitzt leere ich in einem Zug meine von der Sonne warm gekochte Flasche, schütte das Ersatzwasser, das ich in meiner Radtasche mitschleppe, nach, und leere auch dieses. Dann esse ich ein ebenso warmes wie ekelhaftes Thunfisch-Sandwich, das ich aus den Tiefen meiner Seitentasche fördere, stopfe mir zwei Bananen ein und kann so einstweilen die schlimmsten Folgen des sich ankündigenden Hungerastes abwehren. Vorerst.

Dann sinke ich zusammen. Lasse mich auf den Rasen in den Halbschatten eines Baumes plumpsen, die Ameisen, die hier in Massen herumkrabbeln, selbst sie können mich nicht dazu bringen, mir einen insektenfreieren Ort zu suchen. Ich liege da, blinzele nach oben in die Sonne, atme schwer, fühle, wie das klebrige Trikot nass an meinem Bauch klebt, ziehe noch einen Schluck Healthya-Wasser aus der Trinkflasche.

Dann dämmere ich weg.

Ab und zu weckt mich ein allzu keckes Insekt aus meinem Tottraum, dann erschlage ich es auf meiner Stirn, an meinen Armen oder dem Bauch - krabbeln sie an meinen Beinen herum, kann ich nichts tun. Dort unten hinzulangen würde zu viel Kraft kosten.

Es ist irgendwas um 14 Uhr herum. Höhepunkt des Tages. Mein Tiefpunkt.

Ich dämmere wieder weg, blinzele ab und zu durch den Baum über mir in einen Schäfchenhimmel. Es tut gut, hier zu liegen. Sanfter Wind streicht über meinen Körper, trocknet die nassen Klamotten, die Sonne scheint auf meine Beine, wärmt, umhüllt mich mit ihrer Korona, wiegt mich in Wogen voller Traumfetzen, immer wieder unterbrochen von anfahrenden Bussen.

Ab und zu laufen Horden von Schulkindern in ihren schwarzen Uniformen an mir vorbei. Sie haben große, schwere Shimano-Sporttaschen. Wahrscheinlich ist hier eine Sportschule oder Ähnliches, denke ich mir. Die Jungs und Mädchen beschauen mich, mustern mich, versuchen, das unbemerkt zu tun, diesen Gaijin, den Ausländer mit dem komischen Fahrrad. Sportler, wie sie, wie er da herumliegt, fertig, faul, ohne Energie.

Ein trauriges Bild muss ich abgeben.
Ganbatte?
Wohl eher Nonbatte.

Es ist 14:30 Uhr, als ich mich aufraffe mit dem Entschluss, noch bis 16 Uhr weiter zu fahren und mir dann das erste beste Hotel zu nehmen.

Ich ächze, als ich mich in die Speedmachine sinken lasse.
Ich stöhne, als ich mein Bein anhebe, um mich einzuklinken.
Ich knirsche, als ich die erste Kurbelumdrehung trete.

Alter Schwede, wenn der Wurm einmal drin ist, dann ist aber auch wirklich Alarm!

Motivation auf Deutsch

Ich folge zunächst der 169 genau nach Süden. Was nervt, denn nun habe ich die sich langsam senkende Sonne von schräg vorn. Aber, so ergebe ich mich kampflos, warum auch nicht? Das passt irgendwie zu dieser Etappe.

Vor mir erscheint eine massive Wand aus Berg. Ich schaue auf meinen Google-Ausdruck und sehe, dass dies wirklich nur eine einzige Wand ist, ein Massiv, das ich überqueren muss. Dahinter, so verspricht mir auch die große Karte, würde ich rechts auf die 370 abbiegen, mich etwa 10 Kilometer ein Tal entlang eines Flusses schlängeln und dann auf die Route 24 treffen, eine große, große, große Straße, die sich bis nach Wakayama durchzieht und - und das ist das wichtigste - die ab einer Staft namens Gojo durch bergloses Terrain führen würde.


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Und da kommt er dann auch, der Berg. Eine dunkle Wand, komplett im Schatten liegend. Drohend, erststarrter Fels, vor Jahrtausenden, so scheint es, denn der Wald, der ihn überwuchert, wirkt wie Moosbewuchs. Ein ruhender Riese, schlafend, oder eine Falte in der Erdkruste, eine Welle. Erdruste wie eine Tischdecke, die jemand Riesiges in einem Rutsch versucht hat, unter uns wegzuziehen, dabei erstarrt ist. Eine Falte, die sich von links nach rechts über den gesamten Horizont erstreckt.

Die Steigung beginnt, die Straße zieht merklich an. Ich klammere mich an Gedanken. So sehe ich ein Hotelzimmer vor mir, ein schönes, sauberes Hotelzimmer, perfekt eingeräumt, der Kimono liegt auf dem Bett, ein A4 gefaltetes Stück bequemer Stoff, in das ich schlüpfen kann nach einem heißen Bad.

Ganbatte! Feuere ich mich an, tritt rein, Alter, tritt rein! Nur dieser eine Berg noch, dahinter, irgendwo, irgendwann wird schon ein Hotel kommen ... Ganbatte!

Vor der Welle nehme ich Fahrt auf, das Rad beschleunigt, 25 km/h - ein Wert, der mir unmöglich scheint, schaffe ich es doch nicht einmal, vernünftig an einer Kreuzung zu beschleunigen. 30 km/h - es geht bergab, leicht nur, ganz leicht. Schwung holen vor dem Berg, Schwung holen, Ganbatte, nun mach schon, 35 km/h, yessa, geht doch, denke ich völlig fertig, dann - endlich - hebt sich die Straße. Endlich! Denn ich will diese Steigung bezwingen, sie hinter mich bringen, sie aus den Augen verlieren, ich trete, trete rein, hole alles raus, langsamer werde ich, aber das war zu erwarten, Luft, sie brennt mir in den Lungen, mischt sich mit den Abgasen der Autos neben mir, egal, egal, denke ich, Ganbatte, Ganbatte!

Und dann, dann ist es soweit. Ich halte an. Vor mir der Tunneleingang. Dunkel. Schwarze Nacht. Schwer atmend fingere ich an meinem Dynamo herum, schalte ihn auf die Lauffläche. Ich bin fertig, einfach leer, keine Power mehr, ich spüre das, aber ich ignoriere es. Ganbatte, du Sau! Ich trete rein, verschwinde im Dunkel, nur spärlich leuchtet meine Funzel in die erfrischende Kälte des Tunnels, ich trete, verliere das Gefühl für meine Geschwindigkeit, trete, trete, Autos zucken an mir vorbei, vielleicht hätte ich meine Sonnenbrille abnehmen sollen? Ach, was, da hinten kommt das Licht. Und nun, nun keinen Scheiß bitte, lieber Bikergott, keine Berge mehr, keine Serpentinen, bitte - ich wünsche mir nur eines: Es muss keine Abfahrt sein. Muss es nicht. Wirklich. Aber eine Ebene, eine, die keine Steigungen mehr hat, eine ganz einfache, ebene 0-Grad-Straße. Geht das? Ginge das? Jetzt? Jetzt gleich?

Ich schieße aus dem Tunnel.

Und will fast schreien. Wie, als verließe man ein Gebäude, das nur aus Treppenhäusern besteht. Ein Albtraum aus Treppe hoch, Treppe runter. Aus engen Gängen, die einem die Luft abschnüren. Nur Wand. Nur Beton. Nur Neonlicht. Und dann, eine Tür, eine Tür, man öffnet sie und steht auf einmal draußen. Keine Wände mehr. Keine Begrenzung.

So komme ich mir jetzt vor - hinter mir bleibt die Wand mit dem Tunnel zurück. Ich rolle den Berg hinab, biege rechts auf die 370 ein, ein Fluss, an dem ich fahren kann. Vor mir öffnet sich eine weite Ebene. Keine Berge. Keine Berge bis zum Horizont!
Neben mir, der Fluss, er fließt, das kann ich sehen, in meine Richtung - also gibt es hier Gefälle. Nicht viel, nicht stark, aber: Nicht bergan! Ich möchte jauchzen, frohlocken!

Auf einmal schießt es mir in die Beine. Kühl. Befreiend, von woher, das weiß ich nicht. Aber ich kenne dieses Gefühl, kenne es, kenne es. Es ist Stärke. Es ist die Stärke, die meine Kurbeln antreibt, mein Rad vorwärts schiebt.

Wie wild drehen sich die Räder, schnellt der Asphalt unter mir entlang, als ich anfange zu entdecken, dass es dieses kleine, kaum merkliche Gefälle ist, das mich auf 30 km/h beschleunigen lässt.

Himmel, was ist hier nur los? Sind das die Bananen von vorhin, die mir jetzt neues Leben einhauchen? Hat das Protein-Water seine Zauberkräfte endlich in meinem Blutkreislauf entfacht? Oder ist es das ewige Mantra des "Ganbatte!", das ich vorhin schmerzstillend gemurmelt habe, das nun seine magischen Samuraikräfte entfaltet?

Ich fahre, als sei nichts gewesen. Was steht da auf dem Display? 142 Kilometer? Und was steht da vor mir auf dem Straßenschild? Gojo? So weit schon? Wie bitte? Eben kämpfe ich mich kränkelnd stundenlang durch Täler und über Berge, komme kaum vorwärts und nun, keine gefühlten 5 Minuten nachdem ich die Falte bezwungen habe, bin ich schon 15 Kilometer weit gekommen?


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Ich komme an eine Raststation. Direkt am Kino-kawa gelegen. Es ist 16 Uhr. Die Sonne schickt sich an, noch einmal Luft zu holen, zu verweilen, bevor sie gleich gedenkt, unterzugehen. Ich beschließe, auch noch eine Rast einzulegen. Das Tempo, das ich hier angeschlagen habe, überrascht selbst mich. Woher nehmen meine Beine diese Energie? Woher, wenn nicht aus Reserven, deren Leerung mir noch teuer zu stehen kommen wird, befürchte ich.

Ich fahre auf den Parkplatz - das bekannte Bild: Sauereingelegtes-Kaufhalle, Conbini-Store, Toiletten und eine Menge Rastende. Ich lasse den Parkplatz hinter mir und fahre direkt auf den Flussdeich, bleibe auf der Krone stehen, parke das Rad, fingere die letzte Banane heraus und blinzele beim Essen in die Sonne.

Neben mir, 10 Meter entfernt, steht eine Japanerin. Sie ist vielleicht 40, 45 Jahrte alt. Neben ihr ein Europäer. Beide unterhalten sich. Ich schnappe von ihm ein Geräusch auf. Nur einen Laut, nicht einmal ein Wort, nicht einmal eine Silbe. Nur einen einzigen, kurzen, undefinierbaren Laut.
Und sofort weiß ich: Der ist deutsch.

Diese Modulation. Dieser harte Klang. Das kann nur Deutsch sein.
Ich nähere mich den beiden, sie lächeln mich an.
"Ah, Doitsu-jin des?", frage ich.
"Hai!", machen er und seine japanische Begleiterin.
Ich reiche ihr die Hand: "Ich auch.", sage ich und freue mich ehrlich, endlich einen Landsmann zu treffen, nachdem auch er mir die Hand gibt.

Sie gehören zu einer Reisegruppe aus Deutschland, die per Bus Japan entdeckt. Er ist Münchner, sie, geboren in Deutschland, hat ihre Wurzeln in Horoshima. Sie hätten auch zwei Hamburger dabei, sagen sie, als ein dritter Herr zu uns stößt.

"Schlafen Sie denn heute nach auch im Kloster?", fragt sie und deutet auf die Berge, die in 20 km Entfernung auf der anderen Seite des Flusses in den Horizont ragen.
"Nein", schüttele ich meinen Kopf, "Ich fahre nach Wakayama."

Und raus ist es.
Beschlossene Sache, erschrecke ich mich vor mir selbst, als die Reisegruppe staunend überschlägt, dass es sicher noch 50 Kilometer (oder mehr) bis zur Hafenstadt wären. Etwas abwesend überlege ich mir, was ich da gerade gesagt habe - ich fahre nach Wakayama also?
Ich fahre nach Wakayama.

Kein Hotel am Rand der Strecke.
Nicht das erstbeste Zimmer.
Woher nehme ich bloß die Chuzpe, heute noch nach Wakayama fahren zu wollen?
Woher die Kraft, verdammt?
Warum sagt mein Unterbewusstsein sowas?
Woher soll sie denn kommen, die Energie?

Aus dem Ganbatte!, das sie mir hinterher rufen, als ich winkend den Rastplatz verlasse.
Aus dem Ganbatte!, sage ich mir.

Woher auch sonst?

Robinson Recumbent goes Superveloman!

Was jetzt folgt, ist einfach nur als Krieg zu bezeichnen. Wie ein Berserker, wie ein losgelassener Mustang, wie ein Armstrong auf EPO trete ich mich über den Asphalt. Ich bin in Rage, bin im Fluge, bin in einer anderen Sphäre - Wind faucht mir um die Ohren, die Digits auf meinem Display treiben sich rund um 29, 30, 32 km/h herum, fallen nie unter 28 km/h. Das leichte, aber stete Gefälle treibt mich an, ein Wind, auch leicht, aber ebenso beständig saugt mich förmlich in Richtung Meer.

Neben mir weitet sich die Landschaft immer mehr. Der Trichter, in dem ich fahre, wird breiter. Immer breiter. Die Sonne, nun genau in meinem Gesicht, sie sinkt, sie sinkt immer schneller, aber mir ist das egal, denn ich fahre heute nach Wakayama, schneller, als ich dachte, weiter, als ich wollte und - und das gibt mir den Extra-Boost - es lässt mich aufholen, was ich in den vergangenen Etappen zu wenig gefahren bin. Komme ich heute an - nein - komme ich gleich an, werde ich sogar noch vor meinem Plan liegen!

Irgendwie werde ich immer schneller. Und je mehr Häuser meinen Weg säumen, je mehr es hier nach Stadt aussieht, desto schneller scheine ich zu werden. Wakayama, so steht auf einem der Schilder, sei nur noch 25 Kilometer entfernt. Wow! Die Hälfte des letzten Turns geschafft. Reingetreten, reingetreten, wie im Rausch, im Blutrausch, im Kurbelrausch, ich trete, bin wieder Erster an den Ampeln, bin wieder furchtlos, wenn es um das Abbiegen geht, um das Überholen von Radfahrern, sogar Mopeds lasse ich beim Anfahren wieder stehen.

35 km/h, es ist wie Droge. Es ist wie, als habe jemand einen Schalter umgelegt, eine neue Batterie zugeschaltet. Mir etwas eingeflöst, das mich schnell macht.

Schon steht da eine 15 bei der Kilometerangabe auf dem nächsten Schild. Die Sonne geht unter. Autos haben Licht an, lange schon. Aber ich, ich stoppe nicht, nein, ich fahre mit Ganbatte-Power, ich kann nicht stoppen! Es ist wie eine höhere Macht, die da Besitz meiner Waden ergriffen hat, wie ein mächtiger Engel, der meine Schenkel in seine Hände nimmt und sie stampfen lässt.

Ich schwitze, klar.
Ich atme schwer, logisch.
Es tut weh, es brennt, es zwickt.
Aber ich habe Kraft. Mehr noch - ich habe Zuversicht. Ich weiß, dass ich ankommen werde.
Und ich weiß, dass ich heute noch, falls es noch eine gibt, die Fähre nehmen werde.

Es ist dieses unglaubliche, süße, süchtig machende Gefühl des Sieges, das da in meinem Bauch rumort, das mir die Kehle hinauf quillt, das ich hinaus schreien mag, aber noch nicht kann, weil ich noch nicht da bin. Noch nicht. Nicht mehr lang. Lang ist es nicht mehr, wie mir ein des Englischen Mächtiger erklärt, als ich die letzte Essenspause vor Wakayama einlege.

"30 Minutes", sagt er. "30 Minutes to Porto!"

Es sind dann doch mehr als 30 Minuten, denn der Hafen entpuppt sich als weiter weg denn erwartet. Fast finde ich ihn nicht, denn wieder einmal typisch für Japan - entweder die Schilder sind so groß, dass man sie schon von 10 Kilometern Entfernung sehen kann, oder ... es gibt gar kein Schild.

Und so schieße ich zunächst am Hafen vorbei und werde erst stutzig, als ich ein, zwei Kilometer durch ein Chemiewerksgelände fahre. Ich drehe um, frage einen Hafenarbeiter, der mich zurück weist und ich, mehr ratend denn wissend endlich gegen 18 Uhr vor einem unscheinbaren Gebäude parken kann.

Ob denn noch Fähren nach Tokushima gehen würden, frage ich eine Dame, die mir ein Herr auch meine Frage hin, ob er denn Englisch spräche, freundlich lächelnd aber hastig vorgesetzt hatte. Denn wenn keine Fähre mehr fahren würde, dann könnte ich hier in Wakayama bleiben - immerhin eine größere Stadt, die ihrer Samurai-Burg, einiger Museen und vor allem ihrer Onsens wegen berühmt sei.

Ja, es fährt noch eine. In einer Stunde.
Gut, dann würde ich gern ein Ticket kaufen.
Nein, das geht nicht, informiert sie mich in bröckelhaftem Englisch. Aber ich könne einen "Antrag" auf ein Ticket ausfüllen. Aha, mache ich verdutzt. Einen Antrag also.
Der Zettel vermerkt, dass ich eine Person mit Fahrrad bin. Mehr nicht.
Ich solle in einer Stunde wiederkommen, dann würde jeder, der einen gültigen Antrag besäße, ein Ticket kaufen können.
Aha. Versteht zwar keiner, aber okay, so ist das System wohl.

Ich warte draußen. Mittlerweile füllt sich der Parkplatz vor dem Gebäude, immer mehr Autos kommen, die Insassen warten geduldig mit ihren Anträgen, während auf der anderen Straßenseite eine Fähre gerade angekommen ist und ihre Truckfracht ausspuckt.

Ich ziehe mir am Automaten eine Nissin-Nudelsuppe, instant versteht sich. So hocke ich mich auf den Bordstein und warte. Und warte. Und warte. Ich werde fast verrückt - nach so viel Bewegung und Stress scheint es unfassbar für meine Muskeln zu sein, jetzt keine Leistung erbringen zu müssen.

Die Zeit vergeht, indem ich mir auf meinem Fotodisplay die Pix anschaue.
Indem ich auf der Karte den Weg von heute nachvollziehe. Mir auf dem Klo der Wartestation die ekelhafte Schweiß-Sonnenmilch-Asphaltstaubmischung von Armen, Beinen und Gesicht wasche und beobachte, wie die Japaner die Zeit totschlagen.

Die meisten sitzen wie versteinert in ihren Autos.

Und dann geht alles ganz schnell. Ich bezahle mein Ticket mit der Visa-Karte - verwunderlich, denn europäische Kreditkarten funktionieren hier eigentlich nur in großen Banken und den Hotels - und werde von eifrigen Fährmitarbeitern vorbei an der Autoschlange nach ganz vorn an die Pier gewunken.

Dort stehe ich neben einem Crossmotorrad. Der Junge Mann schaut weg, wenn ich ihm freundlich zunicken will. Auch wieder so ein Paradox: Zwar sind dieJüngeren hier westlicher eingestellt, aber sie sprechen meist kein Wort Englisch und gehen Ausländern aus dem Weg. Englisch sprechen hingegen eher die Älteren hier, die sich auch als offener und kommunikativer erweisen. Komisch.

Hinter mir rangiert die Fähre - Nankai-Ferry - und legt endlich an. Sicher vertäut und fest am Kai liegend, öffnen sich die Stahltore. Mittlerweile erreicht mich Müdigkeit. Schwäche kriecht die Waden hinauf und ich habe tatsächlich Mühe, die paar Meter an Bord des Stahlriesen zu fahren.

Freundliche Matrosen helfen mir, mein Rad mit allerlei Stricken und Pflöcken festzubinden und seegangsicher einzukeilen. Ich bedanke mich, sie verbeugen sich und ich bahne mir den Weg nach oben in die Passagierräume.


Ich gehe die Treppen hinauf, oben ist schon mächtig Betrieb. Familien mit kleinen und Kleinstkindern, Alte und Uralte, Trucker in ölverschmierten Overalls, Geschäftsmänner in Azügen, Pilger mit ihren obligatorischen Pilderstäben und alle möglichen anderen Schichten, Gruppen und Menschen finden sich hier.

Ich genehmige mir am Ausschank noch ein kaltes Mahl aus Reis, Sushi und Chicken, hocke mich zusammen mit dem Essen und einer eiskalten Healthya-Traubensaftflasche in einen der großen Tatami-Bereich und fülle mir den Bauch.
Es tut gut, zu essen.
Es tut gut, zu sitzen.
Und noch besser tut es, als ich mich der Länge nach hinlege, dabei fühle, wie das Schiff ablegt zu seiner mehr als dreistündigen Fahrt hinüber zur Insel Shikoku.

Anziehung und Abstoßung

Als ich erwache fühle ich mich ein wenig erfrischt. Das Schiff ist mittlerweile eine Stunde unterwegs und die meisten schlafen. Wer nicht schläft, hat sich zumindest den iPod eingestöpselt, liest, löst Sudokus oder schaut mehr oder weniger interessiert dem bellenden TV-Screen zu, auf dem stetig Nachrichten laufen.

Kinder toben die Gänge entlang, schreien nach Lust und Laune, niemand da, der sie bremst oder ihnen Einhalt gebietet - immerhin versuchen hier die Leute zu schlafen. Aber ich habe einmal gelesen, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter so etwas wie Narrenfreiheit genießen. Denn dann werden sie ebenso unnachgiebig wie konsequent in das enge japanische Korsett einer Gesellschaft gepresst, in der "das Gesicht wahren" oberste Priorität hat und der Ausbruch von Emotionen verpönt ist.

Und so gönne ich den nervigen Quälgeistern ihren Spaß.

Interessant finde ich dann auch die japanische Definition von "Privatsphäre". Hier auf dem Schiff, hier in meiner Tatami-Ecke kann ich das besonders gut beobachten. Während in Europa das Unterschreiten einer Entfernung von 30 bis 40 cm bereits als Eindringen in die unmittelbare Privatsphäre gewertet wird, scheint es so etwas hier in Japan nicht zu geben.

Neben mir liegt ein Pärchen. Verliebt. Schön, sich ihren zärtlichen Umgang anzusehen, es erfreut mich, wenn man Menschen sehen kann, die sich einander hingeben - vor allem hier in Japan, wo zwar überall gelächelt wird, aber ich Probleme habe, echte Zuneigung und Freude, echte, wahre Emotion von "Rolle" zu unterscheiden.

Das Pärchen liegt dort also, Arm in Arm und kuschelt. Neben ihnen, unmittelbar an seinem Rücken, ein älterer Herr. Er schläft.
An ihrem Kopfende, keine 5 cm entfernt, ein weiterer Herr.

Und ich, ich liege auf ihrer Seite. Ebenfalls unmittelbar an den beiden dran. Ich habe keine Wahl, denn nach rechts endet die Tatami-Matte. Und immerhin haben sich die beiden von sich aus so an mich "herangemacht".

Was mich so verblüfft - wir berühren uns. Wir alle. Alle, die hier liegen, sie berühren sich. Ob es an Beinen, an Armen, am Kopf oder eben - wie bei mir - am Hintern ist.

Denn jedes mal, wenn die Wellen das Schiff an Backbord anheben, rollt das Mädel etwas zur Seite und ihr Hintern drückt an den meinen. Nicht, dass ich das als unangenehm einschätze. Gerade hier in diesem Land, wo ich mich so einsam fühle, wie noch nie, ist die Berührung, auch wenn nur eine unbeabsichtigte, eines warmen, wohlgeformten Damenhinterns eine willkommene Abwechslung.

Aber interessant ist es allemal: Privatsphäre in Zentimetern scheint es in Japan also nicht zu geben.

Periodisch angetätscht durch den Po der Dame dämmere ich wieder weg, mich in den Traum sinnierend und nachdenkend über Abstoßung und Anziehung der Menschen hier, und was das Fehlen einer klaren privaten Grenze für Auswirkungen auf das soziale Miteinander wohl haben kann.

Doch alle soziologisch-theoretischen Ansätze verblassen, selbst das Toben der Kinder in das Bellen des TV-Sprechers hinein kann sie nicht aufhalten, die Wogen des Schlafes ...

Tokushima bei Nacht

Zu wecken vermag mich dann nur das zuckerweiche Stimmchen einer Stewardess, die in gewohnt singendem, zwitschernden Servicejapanisch anscheinend die nahende Ankunft ankündigt.

Ich stehe auf, die beiden Turteltäubchen erwachen ebenfalls, lächeln sich und mich und alle an (verliebt halt) und nachdem ich aus den hunderten ausgezogenen Schuhen, die vor den Tatamimatten stehen, meine herausgefunden und angezogen habe, trete ich kurz an Deck.

Die Nacht ist pechschwarz, es ist warm, über 20 Grad auf jeden Fall. Öliger, satter Dieselgeruch kommt von den Schornsteinen der Nankai-Ferry, Tokushima leuchtet in der Nacht, aber es sind nur Straßenleuchten. Autos? 23 Uhr? Fehlanzeige. Die Stadt ist ruhig.

Wenig später rolle ich behend tretend durch die leeren Straßen. Müde bin ich. Müdigkeit in jeder Faser meines Körpers. Hotel, ich brauche ein Hotel, ist alles, was ich denken kann.
Und nachdem ich einige sehr teuer ausschauende Etablissements links liegen gelassen habe, finde ich in einem kleinen, dunkle, unscheinbaren Haus genau das was ich suche: Ein so herzzerreißend freundlicher und besorgter älterer Herr, der hier Nachtconcierge ist, einem Samurai nach dem Schlage Mister Miyagis aus dem Gesicht geschnitten, gibt mir ein geräumiges und preiswertes Zimmer, in dem ich bis kurz nach 1 Uhr bade, mich salbe und endlich, endlich, endlich nach diesem nur als Parforceritt zu bezeichnenden Tag ins Bett sinken kann.

Unglaublich, was ich da heute geleistet habe, das schwirrt mir vor meinem Wirren inneren Auge herum, und ich mache eine geistige Notiz, morgen früh diese unfassbare Etappe einmal in Ruhe zu durchdenken, als ich einschlafe, wegdämmere und endgültig alle Lichter ausgehen.

Ganbatte-Power - switched off.

Gefahren: Tödliche 186,42 km in 8:32 Stunden mit einem 22er Schnitt. Und WOW - schaue sich mal einer diese Strecke auf der Karte an - ganz Kii-hanto an einem Tag!