The Tale of a wrong Turn

Tag 7/Etappe 5 - Es soll eine "ruhige" Etappe nach Takamatsu sein.

Knieschmerzen auf einer Tour. Sie sind das Schlimmste. Zwar nicht, weil sie so furchtbar weh tun würden. Nein. Knieschmerzen reihen sich, würde ich sagen, auf der Schmerz-Top-10 ziemlich weit unten ein. Noch hinter Zahn- und Kopfschmerzen und sogar denen, die bei Schnittverletzungen und Prellungen entstehen. Knieschmerzen sind ertragbar. Es ruckelt, es knirscht, es kneift im Kniegelenk - man stöhnt, stützt sich irgendwo ab und dann ist es halt wieder halbwegs okay. Denkt man. Bis man die Knie dann wieder braucht.

Ich kann nicht mehr schlafen.

Knieschmerzen also. Man kann ganz zwar normal weiter machen, ohne Probleme. Nur - und da wird es fies - das Fahrradfahren kann man vergessen. Jeder Antritt, jede Kurbelumdrehung, jedes noch so kleine Stückchen Kraft, es muss über die Knie auf die Kette. Und wenn die Knie schmerzen, kann man das vergessen. Sicher, man kann versuchen, weniger Druck auf die Pedale zu bringen. Man kann versuchen, auf dem nicht schmerzenden Bein eine Weile den Großteil der Kraft abzufangen, aber das sind alles nur halbherzige Zwischenlösungen - wenn das Knie ausfällt, ist sie zu Ende, die Tour.

Und weil ich, sagen wir, wenn ich mich im Schlafen von einer auf die andere Seite drehe, sehr große Schmerzen im Knie habe, weil ich, wollte ich vom Klo aufstehen, große Probleme habe, überhaupt von der schnatternden Klobrille runter zu kommen und weil es mir ein lautes "Aaaarghhh!" entlockt, wenn ich die Beine anwinkle, hatte ich heute Nacht Albträume.

Im Traum sehe ich mich abbrechen. Sehe ich mich inmitten von heißem Nowhereland stehen, nicht im Stande, auch nur noch einen einzigen Kilometer zu treten. Heiß und nass wache ich mehrmals auf - ärgere mich, denn ich hatte heute sowieso so wenig Zeit zu schlafen - und prüfe dann und wann mein rechtes Knie. Verdammt! Es schmerzt. Warum nur, warum nur, frage ich mich, habe ich nicht noch die 300 Gramm Extragewicht in Kauf genommen und das tolle Latschenkiefer-Gel mit Franzbranntwein mitgenommen? Verdammt! So eine Nonne von Klosterfrau hätte ich hier jetzt ganz gut gebrauchen können, im Shinto-Land.

Tja, aber die leckere Tube mit dem grünen, kühlenden Gel steht zu Hause.
Und der Badezimmerschrank ist 12 Stunden Flug entfernt.
Etwa 20.000 Kilometer.
Und noch 2 Wochen bis dahin.

Die Etappe von gestern, fast 190 Kilometer und dazu die 45 Kilometer Bergprüfung, sie stecken mir in den Knochen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Wieder ächze ich, als ich mich bewege.

Und ich beschließe etwas: Heute, so entscheide ich, mache ich eine ganz ganz ganz ruhige Etappe. Keine Heldentaten, keine Bergziegen-Einlagen, keine Eddie-Merckx-Sprints, kurz, nichts, was auch nur entfernt auf die Gelenke gehen könnte. 100 Kilometer. Ja, ich denke, das ist eine gute Zahl. 100 Kilometer, das gelingt nach 4, vielleicht 5 Stunden bequemer Fahrt und 100 Kilometer, so schaue ich gegen 7:30 Uhr auf meiner Karte nach, würden mich nach Takamatsu bringen. Keine Ahnung, was dann da in Takamatsu ist, aber es ist zumindest eine größere Stadt.

Warum ich dann nicht noch ein, zwei Stunden liegen bleiben und ausschlafen könnte?, fragt eine Stimme in meinen Schädel hinein. Warum stehe ich dann auf, wenn ich mir heute Zeit lassen möchte?!?

Bevor ich mich mit mir selbst streite, lenken mich meine knirschenden Beine wankend ins Bad und lassen mich die Morgentoilette vollführen.

Eine halbe Stunde später stehe ich am Fuße einer langen Overland-Bridge am Ausgang der Stadt Tokushima und blinzele in die Morgensonne. In Wahrheit relaxe ich, denn die 3 Kilometer Fahrt vom Hotel bis hier her ... schmerzen jetzt schon in den Knien.

Die Sonne steht schon längst am Himmel, sie hat mich vorhin begrüßt, als ich das liebenswerte Hotel verließ, das sich da wie ein scheues Rehlein in der Straße ganz eng in eine Nische zwischen zwei Häusern eingeklemmt hatte. Der Concierge wünschte mir überschwänglich eine gute Fahrt.

Geld brauche ich. Bargeld. Ich habe nur noch ein paar tausend Yen. Wird reichen, um mich damit heute zu verpflegen, mein Calpis- und Vitamin-Water zu kaufen. Aber für mehr auch nicht.

Tokushima adé - ein kurzer Ritt mit Deutschland

Hinter mir leuchtet die Hafenstadt Tokushima im Licht eines klaren jungen Tages. Ich blicke zurück, kaue noch die letzten Bissen meines Bananen-Schoko-Kuchens, den ich mir gerade beim alltäglichen Lawson-Frühstück einverleibt habe und stöhne.

Vor mir liegt die Straße, eine lang gezogene, leicht ansteigende Straße. Nichts Weltbewegenedes, die einzigen Berge, die ich sehen kann, sind weit weit weg und so droht zumindest unmittelbar keine Gefahr, den Tag gleich wieder mit Höhenmetern zu beginnen.

Wenn ich mir vorstelle, wie ich hier gestern Nacht vollkommen übermüdet nach dem Gewaltritt durch ganz Kii-Hanto angekommen bin: Verschreckt, gerade man so noch wach bleibend von der Fähre in eine stockdunkle Stadt gerollt, kaum Autos auf den Straßen, selbst die Ampeln blinken müde in Gelb. Nichts los.

Heute, genau das Gegenteil: Geschäftiger Geschäftsverkehr, Geschäftsleute, Geschäftsfrauen und selbst die Kinder sind geschäftig. Überall hasten sie von A nach B, keiner, der Schlendern, träumen oder sich Zeit lassen würde für irgend etwas oder irgendwen. Japan halt. Ich glaube, die spannen hier nie aus.

Ist es das, was sie so strange finden, an uns Gaijins? Dass wir dem Müßiggang fröhnen?
Aber halt, denke ich, als wieder ein kleiner Schmerz aus der Kniescheibe nach oben fährt: Müßiggang kann man meinen Urlaubstrip hier beiweitem nicht nennen! Immerhin bin ich bisher an jedem einzelnen Tag mehr Kilometer gefahren, als ich eigentlich wollte.

Nicht, weil ich so unglaublich motiviert wäre, gebe ich zu, sondern Google sei Dank.

Und irgendwie ahne ich, dass das heute nicht anders sein wird, als ich endlich - langsam, langsam - losfahre.


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Heute fahre ich die Route 28 nach Norden hoch, werde dann genau an der Küste entlang fahren und irgendwann - mit der Küste halt - auf Takamatsu treffen. Hier gibt es eine bequeme Küstenstraße, herrlich, genau am Strand, rechts das Wasser, links die Berge und ich, ich fahre schön ebenerdig. Genial. Denke ich mir, genial und besser, als die andere Variante, die ich hatte, nämlich von Tokushima aus die Route 12 nach Westen zu nehmen.

Diese würde mich in dem - zugegeben ebenen - Trichter entlang des Yoshinogawa-Flusses führen und, was meine Befürchtung ist, eben dann doch irgendwo vor Shikokuchuo in die Berge schicken. Zudem: 120 Kilometer durchs Inland zu fahren, darauf habe ich nach dem Inlandstrip von gestern keine rechte Lust.

Nein, heute will ich Küste sehen, viel Blau, viel See und immerhin ... ich starte in Tokushima, einer der Städte mit den "hundert schönsten Aussichten" Japans.

Die Fahrt geht erstaunlich flott. Immerhin habe ich, nachdem ich den Yoshinogawa-Fluss überquert habe, eine wie prophezeit flache und angenehm zu fahrende Ebene vor mir. Links erstrecken sich weitab die Berge, die wie eine Mauer das Flussbett in einen immer enger werdenden Trichter zwängen, rechts glitzert, leider auch weit entfernt, das Meer.

Und genau da, wo sich massive Bergwand und geheimnissvolles Meeresglitzern treffen, an der dünnen Nahtstelle, wo der Berg ins Meer abfällt und - so denke ich mir - ein kleiner Strand das ebenerdige Fortkommen ermöglicht, genau dorthin steuert meine Straße.

Ich passiere die Ebene, Reisfelder, so weit mein Auge reicht, Autos auf vier Fahrtspuren, mäßiger Verkehr und ein Schild, auf dem vertraute Farben prangen: Schwarz-Rot-Gold weist den Weg zum "Museum of Germany", wie dort steht.
Und da ich es mir ersparen möchte, Lobeshymnen auf Schweinshaxn, Neuschwanstein und vielleicht noch viel Schlimmeres vorgesungen zu bekommen, lasse ich das deutsche Museum links liegen und fahre weiter.

Leider gibt es keinen Strand. Sondern einen Tunnel, dort, am Ende, wo die Ebene durch den Berg aufgehalten wird. Aber immerhin: Ein Tunnel und keine kniemordenden Serpentinen.

Wie luxuriös, denke ich mir noch, als ich in die Röhre einfahre - jede Fahrtrichtung hat hier seinen eigenen Tunnel. Ich durchquere den kühlen Beton, sonderbares Orange umhüllt mich, kommt mir irgendwie belgisch vor, das Licht hier, die Stimmung, kommt mir vor, wie Abends, gar nicht wie 9 Uhr, als ich mit leichten 25 km/h dem Licht am Ende entgegen steuere und mir ausmale, was mich erwartet.

Immerhin, so verspricht mein Japan-Reiseführer, werde ich jetzt zwei Tage lang an der Nordseite Shikokus fahren, also an der Küste zur Inlandssee, dem Binnenmeer, das durchsetzt ist von hunderten romantischer, mehr oder weniger großer Inseln, das Postkartenmotive bis zum Umfallen und viel japanische Romantik bietet. Sagt der Reiseführer.

Ich bin gespannt.

Wrong Turn #1 - Aber schick ist es hier trotzdem

Wow! Entfährt es mir, als ich aus dem Tunnel komme. Mir scheint die Sonne ins Gesicht, es riecht viel frischer, als noch hinter dem Berg und es weht ein leichter Wind vom glitzernden Meer her, das ich von hier aus sehen kann.

Es geht noch etwa 200 Meter leicht bergan, bis der in den Himmel reichenden Pylonen gewahr werde, die wie plötzlich zum Fliegen bereite, riesige Insektenflügel aussehen. Die Brücke schaukelt leicht, habe ich das Gefühl, aber das täuscht - meine eigene Schwäche macht mich schaukeln. Der kurze Fotostopp ist wie eine Erleichterung, ich bin noch nicht einmal 20 Kilometer gefahren und freue mich schon über eine 2-Minuten-Pause ...

Heute weiß ich, dass es diese Brücke war, die mich eigentlich hätte stutzig machen sollen. Denn so schön es hier auch ist, ich hätte hier gar nicht vorbei kommen dürfen. Denn - und hier haben mir die japanischen Straßenplaner wieder ein Schnippchen geschlagen - ich hätte noch vor dem Tunnel der Route 42 folgen sollen, anstatt dem Schild meiner angestammten Route 11 weiter hinterher zu fahren.

Das verstehe mal einer: Die Route 11 wird zur 42 und an der Nordküste wieder zur 11, und die 11 geht irgendwo weit ab zu Ende. Aber, wie mich Ats von Cycle Tokyo! schon vorgewarnt hatte: "Routes may end. But they will reappear. Hopefully."


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Mein erster Wrong Turn des Tages. Und der, der damit das Schicksal meiner Knie besiegelt. Aber von alledem weiß ich jetzt noch nichts, stehe am Zaun und blicke über die Brüstung hinab auf den träge fließenden Sund, der zu einem kleinen Hafen wird. Einige größere Fischerboote - japantypisch mit dem messerspitzen Bug - dümpeln am Kai, kleine Jollen zuckeln von hier nach da. Es ist die Stadt Naruto, die diesem Nationalpark ihren Namen gibt.

Es ist wunderschön hier, hier, hinterm Berg, das merke ich sofort. Ruhig, abgeschieden. Ich fahre die Route 11 entlang, die zunächst noch genau das ist, was sie vor dem Berg war: Eine dicke, vierspurige, große Straße. Kein Verdacht keimt in mir, nur die fehlenden Autos machen mich stutzig: Warum treffe ich nicht einen Truck, nicht einen Scooter, nicht einmal einen Kleinwagen an?
Es geht wieder 500 Meter bergauf, vorbei an einem Schulkomplex, obligatorisch mit dem für Japan so typischen Baseballfeld, das mit einhunert Meter hohen Ballfangnetzen, riesig in den Ausmaßen, umspant ist. Kein Schüler zu sehen, kein Geschrei zu hören, nichts. Keine Autos. Gut, es ist Sonntag. Aber deswgen ist Japan doch nicht verschwunden? Es ist Mittag, heiß, heiß ist es und ich schwitze, als ich versuche, mich knieschonend den Berg hinauf zu schleppen und noch immer schöpfe ich keinen Verdacht

Auch nicht, als die große Route 11 auf einmal endet.


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Ach schön, denke ich, klinke meine Schuhe aus und stehe auf dem letzten Meter der Route 11, die mich eigentlich bequem, ebenerdig und schnell in nur 100 Kilometern an mein Ziel hätte bringen sollen. Und die endet nun. Ich müsste nur mein Rad einmal kurz anschieben, dann wäre ich von dem perfekten Flüsterasphalt der Route 11 auf eine löchrige Schotterpise einer nicht einmal halb so breiten Straße.

Was geht hier vor? Frage ich ich mich im schweißnassen Fieberwahn der heißen Mittagszeit.
Und ehe ich mir selbst die Frage beantworten kann, sind es überraschenderweise meine schweren Beine, die sagen: "Klappe, genug gequatscht, genug gedacht - wir haben keinen Bock mehr und wollen endlich in eine heiße Wanne, also Gas geben!"

Und das tun sie dann auch. Zunächst folge ich der grobschlächtigen Buckelpiste. Sie windet sich am Rande eines schmalen Küstenstreifens fast neben dem Ufer entlang. Nicht weit von mir dümpeln Muschelzuchtkäfige herum, einige müde Fischerboote rudern behäbig auf ruhigem, glitzernden Wasser. Zusehends wird die Buckel- zur Schotterpiste, rechts neben mir türmt sich ein Abhang zu einem stattlichen Berg hoch über mir auf und dann ende ich vor dem völlig herunter gekommenen Eingangstor zu einer längst Pleite gegangenen ... Fabrik. Ich stehe im Nichts.

Hinten, da, wo ich her kam, kann ich noch die Brücke erkennen, ihre hohen Pylonen grüßen mich schäbig. Schweiß vernebelt mir die Sicht. Umkehren? Zurück? Den ganzen Weg? Nee, lass mal. Es muss doch noch einen Weg geben?!?
Ich drehe um und fahre ein, zweihundert Meter. Etwa 50 Meter über mir schießt die Autobahn - der Kobe-Naruto-Highway - aus dem Berg, saust über mir auf dicken Betonbändern in der Luft schwebend entlang nur, um auf der anderen Seite wieder in einem Berg zu verschwinden. Und während ich mit meinen Augen diesem Straßenungetüm, dem Asphalt-Lindwurm folge, entdecke ich einen kleinen Tunnel, der genau unter der Autobahn hindurchführt. Auf die andere Seite - von der Innenseite dieser Bucht zur Außenseite, zur Inlandsee, wie ich hoffe.

Ich wage es und kurbele vorsichtig durch die kalte, enge, dunkle Röhre zur anderen Seite. Tatsächlich, hier, genau neben der Autobahn geht ein schmaler Fußweg - immerhin asphaltiert - entlang. Ich folge ihm. Über mir dröhnt der schwere Verkehr - Ah!, da ist er! - vorbei, ich, hinter einem 3 Meter hohem Drahtzaun und Betonmauer abgegrenzt, muss jede Bodenwelle und jede noch so harte Steigung, die der Berg hier hinlegt, mitmachen.
Fertig, außer Puste, gelange ich nach etwa 2 Kilometern wildem Geschlängel und Gekurve, nach hartem Auf und Ab in ein kleines Dorf. Endlich Menschen.

Das, was mich stutzig macht ist der Fakt, dass ich hier, nachdem ich das elend lange Dorf durchquert habe, auch wieder an einer Route 11 stehe, die ich doch eben erst in dem Schuldestrikt verlassen habe? Und von der ich doch eigentlich nach der Route 42 falsch abgebogen war?

Ich verstehe gar nichts mehr. Mein Kartenmaterial scheint mich verlassen zu haben, oder fange ich jetzt an, vollkommen durchzudrehen?

Ein Blick hinauf aufs Meer entschädigt: Vor mir dümpelt eine ruhige See. Ich kann die kleine Insel Tobishima erkennen, dahinter Fischtrawler und ganz weit weg, aber noch gut sichtbar, die große Insel Awaji, von der aus man ins - mir unsichtbare - gegenüberliegende Festland, die Hauptinsel Japans, Honshu gelangen kann.

Gelangen kann, wenn man Autofahrer ist, denn die riesigen Brücken zu benutzen, die diese Inseln miteinander verbinden, ist Radlern wie mir untersagt. Zumindest hier, an dieser Stelle.
Ich drehe meinen Kopf und sehe die Akashi-Kaikyo-Brücke.

Wie ein riesiges Monstrum, filigran gebaut und doch massiv, drohend und doch ruhig liegt sie da, wie eine riesenhafte, ja fast göttliche Büroklammer, die hier zwischen zwei Inseln eingerammt wurde, um, ja, ja um die Welt zusammen zu halten, so kommt es mir vor.

Weiß, rein, fast wie Perlmutt liegt sie da, diese Brücke mit der größten Spannweite im Mittelteil weltweit - die "Perlenbrücke" genannt, wie ich später zuhause erfahre, und mich freue. Akashi-Kaikyo, da stehe ich nur an deinem Fuße und habe dich noch ein paar Wochen zuvor beim Zappen auf N24 "Wunder der Technik" gesehen. Ein beeindruckender Anblick.

Voller Staunen lege ich meinen Kopf in den Nacken und merke, dass die Autos, die da auf zwei Etagen in Hochgeschwindigkeit vorüberschießen, hier unten, so weit weg, gar keine Geräusche mehr verursachen.

Aber ich muss weiter, denn die da oben, 60 Meter über mir, die haben gut Lachen. Ich aber, ich bin noch Meilen entfernt von meinem Ziel. Und wenn ich die Berge hier so anschaue, dann wird mir eines klar - Umfahren zwischen den Bergen geht hier nicht. Denn in den Tälern ist Wasser.
Und das, so bin ich mir sicher, wird heute noch ein lustiger Tag!

Zunächst umrunde ich die äußerste Spitze der Insel und gelange auf eine kleine Straße, die sich neben der eher unschönen Bezeichnung Route 183 auch noch "Scenic Driveway" nennt. Klingt schön? Ist es auch. Bis ich zum ersten Anstieg gelange.

Vor 9 Prozent wird mit einem deutlichen gelben Schild gewarnt. Und 9-prozentig geht es auch sogleich in die Vertikale. Ich muss auf das kleinste Blatt wechseln, muss in den kleinsten Gang schalten und muss mich zusammenreißen, nicht lauthals loszuheulen, als mein rechtes Knie diesen Berg - den ich ihm heute doch ersparen wollte - mit herzhaftem Stechen, das mir durch das Mark bis in die Ellenbogen fährt, kommentiert.

Dazu die Sonne. Mittags ist es, genau 12. Oder so. Ist mir auch egal. Es gibt, wie immer, kein Schatten. Denn, wie immer, ich fahre genau auf der Seite der Insel, auf der die hier fast senkrecht ansteigenden Berge keinen Schatten spenden - im Gegenteil: Der erhitzte Fels scheint wie daheim beim heißen Stein die Hitze nur wieder an die Umgebung abzustrahlen. Fast habe ich das Gefühl, dass meine linke Wange brennt, wenn ich mich den kahlen Felswänden nähere.

Perlen werden zu Bächen. Rinnsale sammeln sich in kleinen Schweißseen - in der Beuge meiner Arme, auf meinem Bauch, selbst meine Sonnenbrille hat keinen Halt mehr auf meiner Nase. Ich bin ein einziger Schwamm, bis zum Überlaufen mit Schweiß gefüllt.

Merklich stoße ich Luft aus, schreie ein "Scheiße!" in die Idylle, als ich oben auf dem ersten Berg ankomme. Ich atme durch, trinke einen Schluck längst schon nicht mehr schmeckenden Nasses, das die Sonne mal wieder bis kurz vor den Siedepunkt erhitzt hat und werfe mich in die Abfahrt.

Bis zu 55 km/h werde ich schnell, reite besoffen vor Speed enge Serpentinen ab, habe in manchen Kurven dieser extrem engen Straßen Angst, meine Seitentaschen könnten bei allzu harter Schräglage auf dem Boden schleifen, mich aushebeln und zum Sturz bringen - dann wäre es aus, denn hinter der Böschung geht es ebenso steil richtig tief weit runter. Und hier, wo weder mein Handy funktioniert noch die sonst überall anzutreffenden Autos unterwegs sind, wäre das fatal.

Unten angekommen, ragt eine neue Steigung vor mir auf. Wieder 9 Prozent. Na klar, ist wohl eine japanische Glückszahl. Ich suche und finde auch tatsächlich einen Baum, halte in seinem Schatten, werfe mir ein Power-Gel ein und pinkle auf einen kleinen Felsbrocken. Ich meine, ich höre es zischen, als mein Urin auf den Stein trifft.

Zehn, zwanzig Minuten später: Der Berg ist geschafft, die rasante Abfahrt hat ein, zwei Minuten Lohn gebracht, ein zwei Minuten Entspannung für meine Beine, meine Muskeln, die schon so verhärtet sind, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme.

Wieder eine Steigung. Diesmal nur 8 Prozent. Ah, geht doch, denke ich mir und freue mich sogar dämlich darüber, dass ich jetzt 1 Prozent weniger zu bewältigen habe. Als ob das einen Unterschied macht. Macht es nicht, frage ich mich, oder doch? Ich kalkuliere, ob ein Meter mehr oder weniger Höhenunterschied auf 100 Meter wirklich etwas ausmachen.
Ja - komme ich zu dem Schluss, macht er.
Als ich oben angelangt bin, scheint diese Steigung tatsächlich weniger weh getan zu haben.
Ja, stimmt, bestätige ich mir, während ich bergab schieße.
Ja, ein Prozent weniger ist tatsächlich angenehmer.

Unten angekommen, klar, die nächste Steigung.
9 Prozent steht auf dem Schild.

Scheiße.

Ich quäle mich hoch. Wie immer. Kleinster Gang. Das alte Spiel. Es lohnt sich einfach nicht, sich gegen den Schmerz, den Schweiß und diese eine bohrende Frage zu stemmen: Warum mache ich das hier alles?

Allerdings - alles Leid hat ein Ende. Und ähnlich, die Mütter erzählen, dass der Schmerz einer Geburt in genau jenem Moment, da sie zum ersten Mal in das Gesicht des Neugeborenen schauen können und diese großen Augen des eigen Fleisch und Blutes einen anschauen, genauso ist auch mein Schmerz vergessen, als ich mich umblicke.

Von hier oben ist der Ausblick einfach einmalig! Ich kann ganz weit hinten die Brücke erkennen, kann sehen, welche Berge ich mich da gerade im blutkochend harten Kurbeleinsatz hochgekämpft habe und unter mir - ich stehe auf einer fast ebenso gewagt zwischen zwei Inseln gespannten Brücke - fließt die kühle, herrlich frisch aussehende Inlandsee hindurch.

Göttlich.
Ruhig.
Wunderschön.

Ich steige ab. Trinke aus vollen Zügen und stehe am Brückengeländer.

Affenfelsen und Achterbahnbrücken

Unter mir beobachte ich etwas Faszinierendes: Die Tidenbewegung, die Wasser auf der einen Seite des kleinen Durchlasses in das von den Inseln umschlossene Bassin drückt, auf der anderen Seite, direkt daneben, ein starker, mit Strudeln und Schnellen durchsetzter Strom, der Wassermassen aus dem Becken heraussprudeln lässt.

Neben mir, einige Dutzend Meter entfernt, stehen zwei japanische junge Männer, neben deren Autos ich meine Speedmachine in der nahen Haltebucht geparkt habe. Sie blicken zu mir herüber, sprechen miteinander aber beachten mich scheinbar nicht weiter.

Ich genieße noch etwas die Aussicht, lasse den Schweiß in meinem Gesicht von der intensiven Sonne trocknen und labe mich am frischen, salzigen Wind, der hier oben - hoch oben - vom Meer her weht.

Ich blicke mich um und schaue in das Bassin. Umschlossen von den bewaldeten, hohen Inseln, die mir wie Affenfelsen aus dem Tioerpark vorkommen, liegt es da, ein blauer Pool. Muschelkäfige (ich bilde mir ein, es seien Muschelkäfige) tummeln sich fest verankert und ab und zu zuckelt ein kleines Fischerboot vorbei.

Es ist eine herrliche Idylle, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Eine Cote d´Azur, herrlich gelegen, sonnig, warm, ruhig - der perfekte Ankerplatz und mithin ein Katzensprung überland zur nächsten größeren Stadt. Trotzdem kann ich keine einzige Luxusyacht oder einen Yuppie-Segler erkennen. Ein Juwel, unentdeckt, ein Geheimtipp. Und ich, ich habe ihn aufgetan, fehlgeleitet durch Japans undurchdringliches Schildsystem.

Falsch abgebogen und im Paradies gelandet.

Ich schaue mich um - wie eine Achterbahn gleich schwingen sich mutig mal kleine mal große Brücken zwischen den Inseln hin und her. Anscheinend, so bestätigt mir ein kurzer Blick in meine Karte, haben sie hier eine Verbindung zwischen jedem der Affenfelsen hergestellt.

Weitab, quer über das gesamte Bassin, erkenne ich hoch oben auf einem der schmalsten und höchsten Affenfelsen ein Haus. Zunächst glaube ich, ein Kloster zu sehen, aber bei näherem Hinschauen entpuppt sich das Haus als Wetterstation oder Forschungseinrichtung. Das beeindruckendste aber ist die Verbindungsbrücke: Etwa 100 Meter über dem Meeresspiegel und knapp unter der Station beginnt die Brücke, die man nicht horizontal zur nächsten Insel gebaut hat, sondern die scharf nach unten hin abfällt und dort, wo sie am gegenüber liegenden Ufer auf den Affenfelsen trifft, hat sie mindestens 50 Höhenmeter überwunden. Eine schiefe Ebene. Sie sieht aus, als sei sie nach einem Erdbeben einfach hinabgerutscht.
Wahnsinn, diese japanischen Ingenieure. Wahnsinn!

Ich gehe von der Brücke zurück zu meinem Bike, als auch die beiden jungen Männer zu den Autos schlendern. Sie winken und grüßen.

"Konnichi-wa!", sagen sie.
"Konnichi-wa!", sage auch ich.
"From where?", will der Eine wissen.
"Doitsu-jin des.", sage ich auf Japanisch. Da freuen sie sich. Und das bekannte Ahhh, Deutschland! geht los.
"Have good day!", sagt der Andere, deutet auf mein Liegerad, reckt den Daumen nach oben und lächelt mich an.
"Arrigato - you too.", antworte ich, verbeuge mich leicht und setze mir den Helm auf.

Als mich das Auto mit den beiden eine Minute später überholt, winke ich, sie hupen und recken ihre Arme aus den Fenstern.

Meine Freude bleibt mir im Halse stecken, als ich das nächste 9-Prozent-Schild sehe.

Biker Tech Talk in Japanese und Wrong Turn #2

Es ist das alte Spiel - ich gegen die Sonne. Ich gegen den Berg. Ich gegen den Asphalt. Wie in "300", eine schiere Übermacht, die Angst im Nacken, aussichtsloser Kampf. Und dann - doch - die eine, die kleine Chance. Durchziehen, stark sein. Oder doch nur das Sichhingeben ins Unvermeidliche, das Abstellen des Denkens, eintauchen in den Flow, Schmerz, der Gedanken abschaltet?

Ich erreiche irgendwann einen Rastplatz. Ich kann nicht mehr. Kann wirklich nicht mehr. Zwei, drei 9-Prozent-Rampen stecken mir seit der schicken Brücke in den Knochen, ich kann gar nicht beschreiben, wie es meinem rechten Knie geht. Ich mag nicht daran denken, was mit meiner Tour passiert, wenn dieses Knie so beschädigt ist, dass ich nicht mal mehr eine Flachetappe fahren könnte.

Große Schilder kündigen einen voll ausgestatteten Platz an - Bänke stehen da, das sehe ich, und ein Dutzend Rennmaschinen, riesige Motorräder, wie sie die Japaner lieben - "Eierfeile" bei uns abfällig genannt - aber hier, in diesem Highspeedland, wo an jeder Ecke ein Shinkansen an einem vorbeifeuert, hier, wie selbst Bundesstraßen wie deutsche Autobahnen ausgebaut sind (allerdings mit drakonischen Geschwindigkeitsbegrenzungen), hier passen die Bikes her.

Ich beschließe, anzuhalten und eine Pause zu machen, obwohl ich mich beginne zu ärgern - diese Affenfelsenachterbahn kostet mich nicht nur mein rechtes Knie, sondern auch wertvolle, wertvolle Zeit.

Ich rolle an den Hayabusas, Suzukis, Hondas und Bikes-from-the-Future vorbei und parke im Halbschatten eines Baumes. Sofort strömen einige Japaner in Motorradkluft herbei und beginnen - mich nicht beachtend - ein lebhaftes Gespräch über meine Speedmachine.

Mich stört das nicht, habe ich doch einen Wasserhahn entdeckt. Unter das Chrom gehangen lasse ich einige Minuten das eiskalte Wasser über meinen Kopf laufen, wasche mir Schweiß und Salz von den Armen und trinke in hastigen Züge das erste Kalte seit Stunden. Ah, welch´ Wohltat! Ah, welch´ Wonne!

Die Japaner haben mittlerweile meine Rohloff-Nabenschaltung entdeckt und - knieend vor dem Liegerad - den Verlauf der Kette nachvollzogen. Einer nickt immer wieder, ist ganz beeindruckt, ein anderer deutet auf die Aufnäher meiner Seitentaschen - Kanada, Holland, Portugal, all das sind Länder, die sie faszinieren. Am meisten jedoch scheint es ihnen die schwedische Flagge angetan zu haben.

Selbst, als ich wieder zu meinem Rad gehe, nehmen sie komischerweise kaum Notiz von mir. Keiner lächelt oder grüßt. Komisch, finde ich.

Ich mache erst einmal ein Foto von der herrlichen Aussicht. Wie hoch sind wir hier wohl?

Irgendwann glaube ich, genug Pause gehabt zu haben. Auch wenn die Schnackergruppe sich noch in lebhaftem Recumbent TechTalk befindet, schnalle ich mir meinen schicken Catlike-Helm auf, gehe beherzt auf die Jungs zu und setze mich ins Rad.

"Sugoi!" und "Ah!" und "Oh!" folgen, aber noch immer reden sie nicht direkt mit mir. Es ist die Technik, die sie zu faszinieren scheint.

Dann knallt es. Das fiese Geräusch, wenn Metall über Asphalt schleift, ertönt, dazu heult ein Motor auf - die Jungs fahren herum und nun sehe auch ich es: Einer der Motorradleute hat sich beim Anfahren mit der Kupplung vertan und einen Kavalierstart mit Sturz hingelegt. Sie alle rennen von allen Seiten ihm zu Hilfe, stemmen das schwere Kraftpaket aufrecht und helfen ihm auf die Beine. Ich kann da wenig tun. Aber so sind sie nun wenigstens weg von mir.
Ich beschleunige und schieße sogleich eine lange Abfahrt hinab.

Schneller und immer schneller werde ich.
Wind im Haar, Sonne im Rücken. Ah, so muss das sein.

Ich reite einige enge Kurven ab, wieder und wieder lege ich mich in die Serpentinen, Motorradfahrer schießen an mir vorbei, einige, wenige Autos kämpfen sich die Steigung hinauf und ich, ich mache mich bei all dem Spaß einer rasanten Abfahrt - gerade breche ich die 65 km/h-Grenze - auf das nächste 9-Prozent-Schild bereit.

Was aber am Fuße des Berges kommt, ist ein kleines Dorf.
Und hinter ihm eine Kreuzung.
Route 11 steht da.
Ich bin wieder da. On track. Endlich.

Die Affenfelsenachterbahnfahrt hat ein Ende! Mein Knie jubelt, ich grinse und schaue auf meinen Bike-Computer: 48 Kilometer steht da. Also die Hälte dessen gefahren, was ich heute schonenderweise vor hatte. Aber das, was ich da gerade auf den letzten 25 Kilometern abgeritten habe, war alles andere als knieschonend.

Ich hoffe auf Flaches und schicke ein Stoßgebet zum Recumbent-Gott.

A Beautyful Scenic Route mit Geldmangel

Es sind noch 55 Kilometer bis Takamatsu. Sagt ein Schild, als ich die ersten einhundert Meter auf der Route 11 fahre. Die Straße ist ein Traum: Breit, eben und vor allem - flach! der Wind weht nicht sehr stark, aber dafür beständig, seeseitig von schräg hinten und so kann ich schnell, trotz meiner Knieprobleme, auf eine komfortable Reisegeschwindigkeit von 27 km/h beschleunigen.

Die Straße zieht sich exakt an der Küste entlang. Hier gibt es sogar einen Fußgängerweg, mit Radweg-Teil, ich aber ziehe die Straße vor.
Links neben mir ragt unmittelbar neben dem Asphalt eine Wand aus Fels empor, nur spärlich bewachsen mit dornenbestückten garstigen Büschen, eine karge Fauna, aber alles passt irgendwie zu der unmenschlichen Hitze, die schon jetzt meine Klamotten wieder schweißdurchtränkt unangenehm zum Tragen macht.

Dennoch, ich genieße es. Der Verkehr ist auch nur mäßig - für japanische Verhältnisse sogar eher ruhig. Es riecht salzig, manchmal stark nach Seetang. Ich liebe diesen Duft, erinnert er mich doch an die schönen Urlaube mit meiner Familie an der Ostsee, als ich noch klein war.

Doch heute bin ich groß und bahne mir mit meinen eigenen Beinen, meiner eigenen Kraft den Weg durch Japan, dem Land, von dem ich schon so viel geträumt habe. Ich lasse mich durch die Luft gleiten, fast scheint es, als fliege mein Liegerad wirklich, zwar schmerzt das Knie merklich, aber ich lenke mich ab - die Aussicht hinaus auf die Inlandsee ist fantastisch!

Immer wieder liegen der Küste vorgelagert kleine Inseln, romantisch bewaldet. Ob da wohl Menschen leben? Wie cool wäre das denn, sich jetzt einfach ein Boot zu nehmen, dort hinüber zu rudern, das Zelt in der Wildnis einer 400 Quadratmeter großen Insel aufzubauen und ein paar Tage ausspannen in der Einsamkeit, baden im warmen Meer, Lagerfeuer und Fische angeln?

Meine Kehle ist trocken, ich brauche kaltes Nass. Die Affenfelsen-Tour hat mich ausgelaugt, ausgetrocknet. Ich stelle mir mein Inneres vor, als wäre es eine Dörrpflaume. Trocken wie Staub fühlt sich meine Zunge an. Liegt pelzig in einer Mundhöle, die so heiß ist, dass selbst Speichel, den meine Drüsen nur noch sparsam freigeben, verdampfen lässt wie nichts.

Wo ist denn hier bitte der nächste Conbini-Store?

Auf dem letzten Loch pfeifend erreiche ich Higashikagawa, eine kleine, aber nicht sehr schicke Stadt. Wie gestrandete Wale liegen große Fischfangkutter rostend und verwesend am Strand, Wirtschaftskrise? Die dauert hier dann wohl schon länger an.

Der "Beautyful Scenic Highway", wie er uns Route-11-Fahrern auf mehreren Schilder der Straßenbehörde immer wieder schmackhaft gemacht wurde, endet hier wohl - Erdbebenbeton und das bekannte Schilderwald-Werbe-Schriftzeichen-Geschrei empfangen mich. Abgaswolken und Autolärm, Mopedknattern und nervige Rotphasen an Ampeln holen mich von der romantischen Abgeschiedenheit der einsamen Küstenstraße zurück in die urbane Realität des Japans von Heute.


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In einem Family Mart decke ich mich mit Kuchen, Schokolade, Zucker - und Getränken ein. Und erschrecke: Das waren meine letzten 2.000 Yen. Ich bin pleite. Super.

ATMs, also Geldautomaten, das weiß ich, gibt es in jedem Conbini-Store. Diese Mini-Banken nehmen, so man den Aufklebern Glauben schenken darf, zwei gute Dutzend verschiedene Kredit- und Geldkarten an. Nur eben nicht die VISA-Karte in meiner Tasche. Ich bin also auf echte Banken angewiesen. Und die - logisch - gibt es hier so selten, wie Schatten auf den Affenfelsen, denn wozu auch, wenn man in jedem Laden um die Ecke auch sein Geld holen kann. Und wenn ich mir die handyverrückten Japaner so anschaue, machen die ihre Bankgeschäfte sowieso vom Cellphone aus.

Also - wo bitte ist hier die nächste Bankfiliale?

Ich fahre und fahre. Habe die Stadt schon wieder verlassen. Keine Bank in Sicht. Es ist das Orange der JP - Japan Bank - das ich suche. Aber nicht finde. Autohäuser, Stores, Patchinko-Spielhöllen, Supermarts und Malls. Nur keine einzige Bank.

Higashikagawa liegt hinter mir. Ich fahre durch Reisfelder. Etwas abseits der Küste nun, die Straße hat mich weiter inlands getragen.

Neben den Knieschmerzen nun auch noch Geldsorgen. Ach herrje, denke ich mir, was soll denn nun noch kommen? Ein Platten? Nein, Ersatzschläuche habe ich dabei, das wäre nicht so schlimm. Dann, sagen wir ... Speichenbruch? Ah, herrlich, genau! Das wäre etwas, was jetzt noch fehlen würde: Plong! Speiche weg. Am besten hinten, da, wo die meiste Last des Rades liegt. Keine Chance zum Weiterfahren. Und da die Japaner hier sowieso nur kleine Birdies mit 20er-Felgen fahren, ist der nächste Laden, der 26er-Speichen hat ... sagen wir ... etliche Tagesreisen unerreichbar entfernt. Und dem nicht genug, für meinen Speedhub müssten die Speichen ja noch einmal extra gekürzt sein. Keine Chance also. Vor allem heute, da Sonntag ist und alle Japaner verschwunden zu sein scheinen.

Ja, irgendwie so etwas fehlt jetzt!

Was sehe da? Orange? Ja? Ja, es ist wirkliche eine Filiale der JP! Ist ja Wahnsinn! Ich sehe sogar ATM auf einem Schild stehen. Schnell rangefahren - es ist ein Pavillon mitten in einem kleinen Dorf. Auch wieder Japan: In einer großen Stadt suchst du vergebens nach einer Bank. Hier, in einem kleinen Dorf ist sie dann.

Doch ich stehe vor verschlossenen Türen.
Ich gehe um den Pavillon herum. Kein ATM außen.
Scheiße!
Sonntag ist heute. Na logisch.

Was ist jetzt schlimmer? Speichenbruch mit Geld oder kein Hotelzimmer weil ohne Geld? Oh man, seufze ich und fahre weiter.

Takamatsu - Chaos und Ruhepol

Ich schaffe es dann ein paar Stunden und 30 Kilometer später. Ich rolle in Takamatsu ein, meinem Etappenziel. Die Freude hierüber bleibt ein Klos im Hals - kann ich heute doch nur enttäuschende 100 Kilometer auf meiner Karte abstreichen, dort, wo ich sonst 150 Kilometer plane und bisher 180 Kilometer täglich geschafft habe.

Aber mein Knie, das arme, arme rechte Knie, es vollführt einen Freudentanz. Die Kniescheibe scheint zu rotieren, sie feixt und juchst. Ich gönne es ihr.

Und siehe da - eine JP glänzt mich von weitem an. Sie hat sogar geöffnet. Der Automat spricht sogar Englisch und einige Sekunden später bin ich erleichtert - im Herzen und auf dem Konto. Aber immerhin habe ich nun wieder 50.000 Yen in der Tasche, mit denen ich es zwei, drei vielleicht vier Tage aushalten sollte.

Die Stadt ist riesig. Ich hatte es auch nicht anders erwartet. Die ersten Kilometer führen mich an den unvermeidbaren Massenansammlungen von Spielhöllen, Autohäusern und Supermärkten vorbei, bis ich später endlich in den Stadtbereich einfahren kann - und mich inmitten dichtesten Autoverkehrs wiederfinde.

Es ist gerade einmal 13:30 Uhr und ich darf zufrieden sein - trotz des Umweges bin ich dann doch recht früh angekommen. Es fällt alle Last des Tages von mir ab, als ich, genau neben mir, ein Hotel entdecke, das klein genug aussieht, um preiswert und groß genug, um kein Albtraum einer billigen Stunden-Absteige zu sein. Es ist ein "Dormy Inn" - wie es in großen goldenen Lettern hier steht.

Ich bekomme ein mit knapp 5.000 Yen angemessen teures Zimmer. Kann auch sofort hoch und freue mich, als ich mein Rad und die schweren Taschen endlich oben habe.

Das Zimmer ist sehr geräumig und schick eingerichtet, ein Blick aus dem Fenster macht deutlich, dass ich hier im elften Stock des schmalen Hauses fast die ganze Stadt bis zum bergigen Horizont überblicken kann.

Bevor ich mich meiner Klamotten entledige und in die wohlverdiente, knieschmeichelnde heiße Wanne steige, nehme ich mir die Karte vor und schaue nach, wo mein Fehler heute war - zwar bin ich die anvisierten 100 Kilometer gefahren, aber 30 davon, immerhin ein Drittel der gesamten Etappe, haben mich fast meine Patella gekostet.

Und ich entdecke, dass ich nicht ein mal, nicht zwei mal, sondern drei ganze Male falsch abgebogen bin: Das erste mal vor dem Tunnel, als ich nicht gecheckt habe, dass die Route 11 in meine Richtung hier zur 42 wird, das zweite mal knapp hinter dem Tunnel, wo ich über eine kleine Verbindungsstraße wieder auf die 42 gekommen wäre und das dritte mal nach der Abfahrt kurz hinter dem TechTalk-Parkplatz.

Und so bin ich einen Umweg von genau 20 Kilometern gefahren - und habe hier (zuhause gecheckt) 400 Höhenmeter gemacht. Im Vergleich dazu hätte die gesamte Etappe ohne diesen Umweg nur 73 Kilometer mit insgesamt 400 Höhenmetern gehabt.

Aber was gräme ich mich, denke ich, und trage zufrieden mit meinem Stift den heutigen Etappenverlauf in meine Karte ein.
Dann bade ich genüsslich, liege entspannt in meiner Wanne - erst das unangenehme Knurren eines leeren Magens treibt mich aus dem duftenden, heißen Wasser.

Kommerz und Romanze

Japan ist ein Land der extremen Gegensätze. Das ist für mich nun zwar keine Überraschung mehr, aber umso interessanter, als dass ich hier, wenn ich genau hinschaue, mehr oder weniger extreme Ausprägungen dieser Eigenschaft finden kann.

So beginnt gegenüber von meinem Hotel eine "Mall" auf Japanisch. Was das heißt? Das bedeutet, dass ein großer Investor, sagen wir, einer von der Größe eines Real bei uns in Deutschland, einfach mal ein ganzes Stadtviertel überdacht und die Häuser, die sich in dem Carreé befinden, in Ladengeschäfte umwandelt. So, wie vor meiner Hoteltür: Man wird nicht nass, kann stundenlang bummeln und flannieren und wird nicht einmal nass.

Man vergisst sogar die Zeit, denn die Überdachung und das künstliche Licht schneiden einen vom Draußen ab. Shoppen rund um die Uhr: Vom Lebensmittelgeschäft über Buchläden, Mode- und Schuhläden, den obligatorischen Spielhöllen, kleinen und großen Restaurants bis hin zu Juwelieren, Flagstores der großen italienischen Designermarken und kleinen, verstaubten aber wesentlich sympathischeren Buchläden - hier gibt es einfach alles.

Und ich meine jetzt keine einzelne Ladestraße - ich meine ein ganzes Stadtviertel, einen ganzen Kiez. Ich laufe und laufe und verlaufe mich ... mit meinem Starbucks-Macchiato in der Hand.

Und dann das Kontra, die andere seite - kaum verlasse ich die Hochglanz-Shoppingmeile, ist es da wieder, das echte japanische Leben: Enge Sttraßen, Häuser, aus denen leckerer Dampf aufsteigt, diese Enge, diese Dichte, dieses Aufeinander und Miteinander, mehr, besser und echter als all die schick gemachten Sushi- und Tempura-Schuppen, die keine 20 Meter hinter der nächsten Ecke wie Japan tun.

Auch die Menschen - auch hier die Gegensätze. Die Jungen, die Reichen, die Schönen. Gekleidet nicht anders als ihre Altersgenossen in Berlin-Friedirchshain oder Brooklyn-New York City. Schicke Markenware, importiertes Image.

Neben ihnen, die Älteren: Gebückte Hundertjährige, tiefe Falten zeichnen ein Leben voller Erfahrungen, Entbehrungen aber auch voller Glück und dem Streben nach Harmonie und Perfektion nach. Einfache, abgewetzte Kleidung. Diese Menschen legen auf Anderes Wert.

Sie alle, nebeneinander, aufeinander, miteinander - ein bunter Strudel von Gegensätzen, die sich abstoßen und anziehen, die miteinander zu tun haben, kommunizieren, sich ignorieren.

Und ich mittendrin: Mal beachtet, mal ignoriert, ich spüre ihre Blicke in meinem Nacken, wenn sie sich umdrehen, an mir vorbeigehen und den "großen Gaijin", den weißen Ausländer, beschauen. Wie die Schulmädchen hinter vorgehaltenen Händen kichern, wie Männer, die doppelt so alt sind, wie mein eigener Vater, mich anstarren, mich durchleuchten wie ein Röntgengerät, mich sezieren, mich einordnen und wie sie dann stumm weitergehen, sich werweißwas denkend.

Ich mittendrin. Und da ist es wieder, dieses Gefühö von Einsamkeit, vom Nicht-herein-kommen, vom hier sein, ohne Teil zu haben.

Ich esse hastig mein Abendbrot - frisch, heiß und lecker, kaufe mir noch zwei Bananen und lenke meine Schritte ins Hotel. Es ist 16 Uhr - und ich bin einfach nur müde.

Entspannt anderen beim Kniebrechen zuschauen.

Es ist halb Acht Uhr, als ich aufwache. Ich habe geschlafen wie ein Baby, friedlich, ruhig. Einfach umgefallen, liegen geblieben, gerade noch so die Klamotten ausgezogen bekommen. Weggedämmert - klarer, tiefer Schlaf. Kein Traum, keine Geräusche, nichts. Nur Schlaf.

Zeichen dafür, dass mich diese vergleichsweise einfache Etappe dann am Ende doch geschafft hat. Radfahren in 40 Grad heißer Sonne, kein Schatten, kaum Pausen - Japan beginnt, mich fertig zu machen.

Zur Abwechslung schaue ich mir im TV an, wie sich andere statt meiner die Knie (und mehr) ramponieren: Es läuft Sumo. Fantastischer Sport, so hatte ich das noch gar nicht gesehen. Bevor ein Kampf losgeht, liefern sich die beiden Ringer eine Show der besonderen Art: Sie türmen sich mit ihrem Gefolge vor einander auf, vollführen Drohgebärden, zeigen ihre massiven Körper in alle Richtungen, zelebrieren Rituale, besänftigen Shinto-Götter und halten sich an Jahrhunderte alte Traditionen.

Und das alles für wenige Sekunden Kampf.

Japan - Gegensatz und Faszination.

Noch einmal beschaue ich mir die Karte und den Weg, den ich bis heute von Tokyo aus gekommen bin. Weit, weit weg scheint die japanische Hauptstadt zu sein. Weit weg, verdrängt schon, meine ersten, unsicheren Meter in diesem Land, kaum mehr vorhanden in meiner Erinnerung, die blassen Konturen des Fuji-san, die Sandstrände bei Sagara, die harten Autobahnpassagen.

Ich fahre sie ab, die Strecke und bin stolz. Auch wenn mein Knie brennt wie Feuer - ich beschließe, ihn zu gehen, ihn zu genießen, diesen weiten Weg, den ich noch vor mir habe bis Hiroshima. Und bin glücklich, dann doch irgendwie, dass diese "Tale of a Wrong Turn" so glücklich ausgeht - denn ohne mein falsches Abbiegen, hätte ich es nie gesehen, dieses wunderbare Fleckchen Erde, die Affenfelsformationen, das diamantene Glitzerwasser.

Zufrieden stelle ich den Wecker, schalte den siegreichen Sumo-Ringer ab und drehe mich um. Ich bin wieder sofort eingeschlafen.

Knietötende aber wunderschöne 99,12 km.