Sleeping on Crabs

Tag 4/Etappe 3 - Von Sagara Beach nach (irgendwo bei) Matsusaka

"Guten Morgen, Lars," surrt es mir ins Gesicht, "Guten Morgen, Du musst aufstehen!" Ich blinzele. Sonne kitzelt auf der Nasenspitze, Wind streicht sanft über meine morgenfeuchte Stirn. Ich blicke auf grünes Gras, nebelig durch die Gaze meines Zeltes. Ein Grashüpfer sitzt da, ein Riesending, ein Brummer. Seine Hinterbeine reiben an eineinander. Er zirpt. "Guten Morgen, Lars!", dann springt er weg.

Meine Pupillen stellen auf scharf. Hinten läuft gerade der Zeltplatz-Chef lang. Das Bewusstsein kehrt in meinen Kopf zurück. Zelt. Japan. Tour. Liegerad. Ah, da ist wieder alles.
Von wegen, Grashüpfer! Selbst wenn du sprechen könntest - ich würde kein Wort verstehen, denn du wärst ein unverständlich auf Japanisch zirpender Hüfer.

Meine Uhr sagt 5.
Argh. Viel zu früh! Viel zu früh! Die Sonne steht aber schon hoch oben, keine Wellengeräusche auf spiegelglatter See. Selbst der Wellengang liegt noch im Bett.

Ich kann die einsetzende Wärme sehen, da mein grünes Überzelt nur so leuchtet vor Sonne. Mister Zeltplatz ist auch schon wie der Wirbelwind unterwegs - heute kann er endlich dicht machen, der verrückte Deutsche mit dem verrückten Fahrrad fährt ja weg. Das war ihm gestern ja wichtig gewesen: "When leave?", hatte er mehrmals gefragt.
"One day - 7 o´clock!", hatte ich ihm versprochen.

7 Uhr. Das sind noch 2 Stunden. Also drehe dich um und schlaf noch ´ne Runde!, rede ich mir ein. Ich wälze mich weg vom offenen Zelteingang, drehe mich, unter mir knistert die Iso-Folie, schlafen, Augen zu, ich brauche Erholung!
Geht aber nicht. Ich schwitze wieder so, meine Füße stecken in pitschnassen Wollsocken, habe ich das Gefühl. Draußen - typisch japanisch - schlurft nun auch die Zeltplatzfrau den Weg entlang.

Ach, was solls, denke ich mir, stoße den Schlafsack zurück, strecke und recke mich - und 5 Minuten später schlurfe auch ich mit einem winkenden "Ohayu gozaimas!" zu den Waschräumen.

Keine 20 Minuten vergehen und schon steht die Speedmachine beladen und abfahrbereit da.
Ich sage Tschüs und Danke, Herr und Frau Zeltplatz winken, staunen noch einmal, als ich mich in den Sitz des Liegerades rutschen lasse, und ich fahre los.

Sie rollt 500 Meter nur, dann parkt sie vor der Lawson Station, dem Conbini-Store, der mich gestern schon gesättigt hat. Cappuchino, Gepäck, kalten O-Saft, Schokokuchen und Proviant-Getränke für den Trip kaufe ich ein. 1.000 Yen ins Frühstück investiert.

Ich setze nicht einmal meinen Helm auf, sondern radle gemütlich am Strand entlang. Das Dorf Sagara Beach hört irgendwann auf, dann wird aus der breiten Flanniermeile ein schmaler asphaltierter Strandweg. Hier biege ich ein, parke das Liegerad und setze mich auf die hier nur 50 cm hohe Tsunamimauer. Direkt in die Düne. Blicke auf das ruhige Meer, es funkelt, glitzert, beginnt, heiß zu werden, und es sagt "Guten Appetit, Speedmaschinist!"

"Danke", sage ich zurück. Frühstück.

Ach, herrlich! Denke ich mir so, als ich keine 10 Minuten später - viel zu hastig wieder einmal - mein Frühstückchen beendet habe und an der Mauer stehe und pinkle. Ein alter Herr kommt hier entlang, steigt, da ab hier nur tiefer Zuckersand das Radfahren unmöglich macht, von seinem Drahtesel ab und schiebt gemütlich quitschend an mir vorbei.

Ich grüße im Pinkeln.
Er sieht mich nicht. Tut zumindest so. Aber einen Typen in engen Klamotten, der mitten in der Düne mit herumhängendem Schwengel früh morgens das Dünengras gießt ... würde ich auch nicht grüßen.

Ich packe ein. Schnalle den Helm um. Klinke meine Schuhe ein. Wende das schwere Liegerad und trete rein. Gestärkt. Bereit - Etappe, los gehts!

Und wie es los geht! Ich habe den Wind im Rücken, bin fast allein auf weiter Flur und kein einziger müder Höhenmeter ist zu bewältigen. 35, 36, manchmal bis 40 km/h kann ich die Speedmachine beschleunigen. Ich fliege durch kleinere Dörfer, immer in Sichtweite des Tsunami-Deiches, immer in Riechweite der salzigen Seeluft.

Nur vereinzelt kommen mir Autos entgegen, dann und wann ein Schulbus, dessen Insassen dann ihre dünnen Ärmchen aus den Fenstern stecken, winken und brüllen. Ich überhole zwei, drei Radfahrer, einen Rennradler. Die Karte vor dem geistigen Augen weiß ich es - so geht das noch 10, 15 Kilometer, dann habe ich den südlichsten Pinkt dieser kleinen Ausbuchtung Honshus erreicht - dann geht es nach rechts, nach Osten. Ich muss erst einmal über einen langen, langen Berg. Und dann dürfte es idyllisch werden: Bis zum Zielort, einer kleinen Bucht, wo meine Fähre hinüber auf die Ise-Halbinsel (Ise-wan) geht, fahre ich nur am Strand entlang.


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Und irgendwann, ich bin gerade im Geschwindigkeitsrausch, sause nur so dahin, bin außer Atem, aber hey, wann hat man schon mal Rückenwind und die Straße für sich allein? Da kommt sie dann auch, die Kurve. Ich fliege auf sie zu, südlichster Punkt, Wendepunkt, ab jetzt, so weiß ich, kommt der Wind von der Seite. Ab jetzt, so sehe ich, ist es erst einmal vorbei mit der Strandfahrt, aber jetzt, ahne ich, muss ich erst einmal wieder eine Weile im Blechstrom schwimmen, im stinkenden, brummenden, ätzenden Truckerverkehr, der hier um mich herum gerade anschwillt, als sei ein Fahrverbot aufgehoben worden.

Ich fliege auf die Kurve zu, Ampel hat grün, super. Und da geht es auch schon los - vor mir hebt sich die Straße, steigt an. Ein massiver Berg steht da im Weg.

Over the Hill - rein in den Stau

Die Straße wird breit. Angenehm. Es verläuft sogar ein ebenso breiter Fußgängerweg in beide Fahrtrichtungen. Blaue Zwangsschilder zeigen an, dass ich hier eigentlich von der Fahrbahn herunter müsste. Bäh, haben die Japaner jetzt auch die deutsche Unsitte der Radweg-Benutzungspflicht übernommen? Das ist ja ein Gesetz, das damals von den Nazis in Deutschland eingeführt wurde - und die Japaner waren ja Verbündete. Na, wenn, dann machen die aber auch wirklich alles mit, oder?

Neben mir, links, kann ich das Meer erahnen, das da hinter dem Hügel, mittlerweile einige hundert Meter unter mir an - so bilde ich mir ein - gelbsandigen Traumstrand brandet. Rechts sehe ich im Dunst der vertriebenen Morgenfrische Berggipfel aufragen. Nichts Spektakuläres, vielleicht 500, 600 Meter hohe Berge. Aber sicherlich mit fiesen Straßen, die hindurch führen.

Der Verkehr ist wieder dicht wie eh und je. Sekunde um Sekunde braust ein Auto nach dem anderen an mir vorbei. Trucks schnaufen, ihre Bremsen quietschen, wenn sie neben mir an den Ampeln zum Stehen kommen.

Ich schwitze, als ich die erste Steigung überwunden habe, endlich die etwa 3 Kilometer lange, schattenlose Rampe bezwungen habe. Aha, nun gehts also bergab? An den Strand, ja?
Bergab geht es tatsächlich. An den Strand? Fehlanzeige.

Zunächst geht es in eine eher als unsexy zu bezeichnende Schwemmland-Ebene. Immer wieder überquere ich elend lange Brücken, muss auf den Gehwegen fahren, da die Straße zu wenig Platz für Truck und Liegeradler böte.

Es geht über halbtrockene, extrem breite Flussbetten - ab und zu kann ich stolze Fischreiher entdecken, die aber jedes Mal, wenn ich anhalte, um sie abzulichten, davoneilen. Die Dörfer, die ich passiere, sind wenig abwechslungsreich - schmucklose Häuser mit schmucken Gärten, ab und zu ein kleiner Shinto-Schrein und immer mal wieder der obligate Conbini-Store. Lawson Station, Family Mart, Daily Yamazaki und 7 Eleven geben sich die Klinke in die Hand. Scheinen das Gebiet unter sich aufgeteilt zu haben.

So fahre ich, gelangweilt eher, eine Stunde, bis mich der Hunger packt und ich mich freue, dass die Conbini-Stores so berechenbar sind. Ich stoppe irgendwann irgendwo in einem der mittlerweile zu einem durchgehend die Küste einnehmenden Riesendörfer.

Pocari Sweat

Die Conbini-Stores sind schon faszinierend irgendwie. Zunächst sind diese meist an der (einzigen) Kreuzung (des Ortes) gelegen, also super von allen Seiten befahrbar. Irgendwer hat an einer Kreuzung ja immer Rot, und so kann ich - mittlerweile bin ich total ans Linksfahren, der Länge von Ampelphasen und mit dem Fahrstyle der Japaner vertraut - mehr oder weniger unter Missachtung aller Regeln, oft und gern auch mitten über die Kreuzung, in halsbrecherischer Manier vor den Augen der Wartenden auf den Parkplatz des Stores schießen. Wow, wie sie schauen und schauen und schnattern und "Sugoi!" rufen und die Handys zücken ...

Vollbremsung an immer derselben Stelle - Conbini-Stores sehen immer gleich aus. Musterhaus. Ich stelle mein Rad immer vor den großen Schaufenstern in Höhe der Zeitschriften ab. Entweder - so wie gerade - grüßt mich mangaartig verzerrt Michael Jackson oder, wie so oft, ich stehe vor dem allzu freizügig ausgebreiteten Angebot der kompletten Range japanischer Porno-Aggro-Mangas und Schmuddelmagazine. Das Auge isst ja schließlich mit ...

Ich parke mein Rad, meist vor oder neben einem der parkenden Autos. Wenn ich merke, dass die Herren (fast immer sind es Damen am Steuer) ihre Motoren laufen haben, schiebe ich noch ein Stück weiter. Abgase hatte ich ja schon genug.

Dann schnalle ich Helm und Handschuhe ab, hänge beides an meine Kurbeln und gehe hinein. Sobald sich die Schiebetüren geöffnet haben, ertönt ein vornehmes Glöckchen, signalisiert den Mitarbeitern, dass ein neuer Kunde den Raum betreten hat.

Dann rufen sie - wie von einer Geisterhand dirigiert - gemeinsam im Chor "Guten Tag, Danke, dass Sie bei uns einkaufen!" Zumindest glaube ich, dass sie das rufen, denn ich verstehe nur "Bahnhof ... goziamaaaas!"

Ich schaue dann meist die am nächsten erreichbare Person an, die Kassiererin, und rufe "Konnichi wa!", verbeuge mich leicht. Sie sieht es nicht, denn sie hat sich meist ebenfalls vorn über gebeugt. Und ich werde nicht das Gefühl los, dass sie sich vor Ausländern tiefer verbeugen ...

Im Store ist es ebenfalls immer derselbe Aufbau. Mittlerweile würde ich blind zu meinen Dingen finden. Der erste Gang geht immer zur Toilette. Die ist - warum auch immer - direkt neben den Pornoheften. Immer.

Manchmal prangen höchst drastische Warnungen an den Wänden - ohne Schriftzeichen, ohne Ausrufezeichen, es reicht, sich die Bilder anzuschauen - WER HIER IM STEHEN PINKELT UND ALLES DRECKIG MACHT, DEN HOLT DER KLOGEIST UND DEN LACHEN ALLE KINDER AUS! - möchte eines dieser Wanrplakate dem verstörten Blasenentleerer sagen:

Die Klos sind blitzblank. Immer. Supersauber, manchmal sogar mit den bekannten Po-Spül-Roboter-Klos, die mich dann aber doch nicht getraue, zu benutzen. Immerhin laufen hier ein Drittel der Leute nicht ohne Grund mit Schweinegrippe-Mundschutz herum.

Nachdem ich gepinkelt und mir die Hände gewaschen habe, muss ich nur einmal im Halbkreis durch den Laden laufen und das Gewünschte einsacken. Selbst die unterschiedlichen Getränkemarken sind in jedem Store am gleichen Platz!

Heute sollen es frische Sandwiches sein und ... was sehe ich da? Pocari Sweat?

Ja, es ist Pocari Sweat. Hatte ich in noch keinem Conbini davor gesehen. So also sieht es aus. Etwas geleeartige, nebulöse Trübung, schlichtes Design. Was da auf dem Etikett steht, kann ich nicht entziffern.

Warum ich mich so freue? Ich lese vor meinen Touren immer das eine oder andere Buch. Reiseführer meist. Aber auch mal Touren-Bücher. Und so habe ich mich - zugegebenermaßen nur bis zur Hälfte, da es ein richtig dicker Wälzer ist - durch ein Japan-Buch von einer Engländerin gelesen, die über ein Jahr in Japan mit ihrem Rad unterwegs war.

"Tour de Nippon" heißt es. Jodie Dew hat es geschrieben. Lustig, witzig, nette Anekdoten - für einen, der eine Tour planen will, sicher nicht so ganz da Richtige. Aber, Jodie schreibt oft vom Pocari Sweat. Pocari Sweat, das ihr von Autofahrern an der Ampel geschenkt wird. Pocari Sweat, das ihren Durst löscht. Pocari Sweat, das sie über manches Berg-Tief rettet.

Na, ich kaufe das mal. Ehrensache.

Bezahlen im Conbini macht auch Spaß. Sie scannt die Produkte ein. Auf einem mir zugewandten, Bildschirm, der etwa 100 mal größer ist, als die Zahlen meines Betrages, erscheint bunte Werbung, Bilder, Animationen, ein wildes Durcheinander - und immer das "Produkt des Tages" (denke ich mir so). Und das Produkt des Tages wird mit einem Preis angepriesen.

Oft passiert es mir dann, dass ich mich - klar, ich kann ja kein Kana oder Kanji lesen - vertue und erschrecke, denn ich schaue auf die 5.000 Yen des Tagesangebotes, nicht auf die 1.200 Yen für mein Sandwich.

Die Verkäuferin nimmt dann mein Geld - wobei sie den Kopf demütig senkt - sehr feierlich mit beiden Händen entgegen. Restgeld und Bon überreicht sie mir ebenso königlich. Fast so wie damals, als ich von der Direktorin unseres Gymnasiums das Abitur bekommen habe.

Kunde ist König, in meiner geliebten Lawson Station - das haben die hier super raus. Und das beste ist, dass sie sich am Ende dafür entschuldigt, mich abkassiert zu haben.

Wieder nach Osten - Bicycle Route, die Zweite

Frisch gestärkt geht es weiter. Wieder eine Stadt, immer wieder unterbrochen von 500 Metern Reisfelder. Die Japaner nutzen jede freie Fläche, so scheint mir, um hier ihr Grundnahrungsmittel anzubauen. Reisanbau ist eine der dreckigsten, wasser- und arbeitsintensivsten Anbaumethoden. Das beobachte ich, wenn ich mir die Felder anschauen - vom pflanzenlosen Schlick, der stetig morastig nass gehalten werden muss, bis zum kräftezehrenden Anpflanzen der Setzlinge, bei dem man vom Zuschauen schon Rückenschmerzen bekommt bis hin zum saftig Grün leuchtenden Feld in voller Pracht. Terrasssenartig in die seicht ansteigenden Hügel geschnitten grüßt das hellgrün. Von oben muss das prächtig aussehen.

Irgendwann biege ich auch wieder nach rechts ab. Runter von der Riesenstraße. Mal wieder - das kennen wir doch? - lockt mich das grüne "Pacific Coast Bicycle Route"-Schild. Es wird idyllisch. Die Straße - auch das kennen wir - führt zunächst entlang eines kleinen Flusslaufes auf einem Naturdeich entlang. Sie ist schmal genug, dass kein großer Verkehr hier möglich ist. Zwei, drei Kilometer fahre ich allein, genieße die Sonne in meinem Gesicht.

Und da fällt mir auf, dass ich eigentlich noch nie in Japan so richtig allein war. Immer Autos. Immer Trucks. Immer Häuser, Menschen. Immer und immer wieder. Ständig der Blick in den Rückspiegel, ständig schauen, dass man nicht zu weit nach rechts auf die Fahrbahn gerät, immer am Seitenstreifen orientieren ... es ist anstrengend.

Und nun? Nun fahre ich auf der Mitte der Fahrbahn.
Nun lasse ich rollen.
Bin allein.
Niemand hier.
Sogar die Ohren erholen sich - fehlender Motorenlärm wird von Vogelgezwitscher ersetzt.

Wie schön?!

Auf der anderen Seite zieht sie das lose Dorf am Deich entlang. Mehr oder weniger kleine Häuschen, schmucklos, wie immer, dazu ein Gewirr aus amerikanisch anmutenden, abenteuerlichen Strom- und Telefonleitungen. Hier und da spielen Kinder.

Immer wieder die Reisfelder. Reisfelder so weit das Auge blickt. Reis. Sushireis. Reisberge. Reisberg.

Und dann stehe ich vor einer Autobahn. Ach schön.

Da hat sie mich also wieder verarscht, die Pacific Coast Bicycle Route. Verdammt! Irgendwo finde ich nach wildem Gekurve eine Unterführung, nach der es noch einen Kilometer weiter bis kurz vor den Strand geht und dann muss ich auf die Route 150 abbiegen.

Äh, Moment mal, denke ich mir und schaue auf die Karte ...


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Ah, klar, hier gibt es also zwei Routes mit dem Namen 150. Eine Südliche und eine Nördliche. Na, dass soll mal einer verstehen: Keine einzige Pacific Coast Bicycle Route, dafür zwei Route 150. Politiker und Straßenplaner sind aber auch in jedem Land die selben, oder?

Mich aber wundert in diesem Land so irgendwie gar nichts mehr. Ich freue mich, dass ich dann wenigstens so gut voran komme und gebe Gas. Der Wind kommt von schräg hinten - was will man mehr? Zwar nervt jetzt wieder der Verkehr. Auch muss ich wieder alle 5 Sekunden in den Rückspiegel schauen und mich höllisch konzentrieren. Aber hey, dafür fahre ich hier an Japans Südküste am Pazifik entlang. Sowas macht man ja auch nicht alle Tage.

Strandflug ins ... Nirgendwo

Und richtig schön wird es dann sogar auch noch. Denn kurz nachdem ich in den Großraum Hamamatsus eingefahren bin, entdecke ich ihn, den grünen Küstenstreifen. Zunächst geht es auf dem großen Tsunami-Damm entlang, den ich damals schon in Shizuoka und Fuji-City kennen gelernt hatte.

Am Strand fahren sie mit ihren SUVs bis an die Brandung heran, Angler, Jogger und Radfahrer bevölkern die gut asphaltierte Strecke. Der Wind weht sanft von hinten, zwar schwitze ich, aber ich komme hier so gut voran, dass ich Gas gebe und einfach reintrete. Nur der Sonnenbrand an meinen Knöcheln macht mir langsam Sorgen. Die Nase juckt auch schon.

Irgendwann wird der Damm flacher. Flacher. Und flacher. Und dann ist er ganz weg. Rechts neben mir ist ein dichter, dicker Wald. Undurchdringlich. Bäume mit Dornen, bestimmt eine ausdauernde, harte Sorte, die hier im kargen Sand der Dünen auszuharren vermag. Den Weg haben sie mitten durch den Zuckersand asphaltiert. Menschen treffe ich hier kaum - dafür wieder ein Bicycle-Route-Schild. Aha, das ist sie also?

Rechts von mir, zwischen dem Meer und der Pacific Coast Bicycle Route, die Dünen. Dünengras. Es duftet genauso, wie ich es als kleiner Junge immer geliebt habe, wenn wir im Wartburg nach Usedom gefahren waren - den Duft des Meeres, des Salzes, das Rauschen des Dünengrases. Freiheit. Einsamkeit. Irgendwas von ... Robinson Crusoe. Und tatsächlich fühle ich mich auch ein wenig so.

Nicht, weil ich hier jetzt gerade tatsächlich allein auf weiter Flur bin, sondern weil dieses Gefühl von Einsamkeit irgendwie in allem was ich tue, in jeder Minute dieses Trips mitschwingt.

Robinson Recumbent.

Dann ein Schild, das vor Tsunamis warnt. Hier verstehen die keinen Spaß. Und wieder die Einsicht, dass Schwarz halt zum Weiß dazu gehört. Dass das Minus beim Plus immer mitschwingt. Und dass das Schöne auch immer Vorbote des Schlimmen ist.

Tsunami. Erdbeben. Evakuierung. Tod. Chaos. Das passt alles so gar nicht zu der Idylle, die ich hier erlebe. Fast möchte ich absteigen und hier, ja, gleich hier, die Etappe beenden. Der Platz wäre perfekt. Ein Meer, das so lecker aussieht, dass man am liebsten sofort nackt hinein springen möchte, ein Strand, der so perfekt ist, dass ich am liebsten unter einem Strohhut auf meinem Badetuch liegen und wegschlafen möchte in der Sonne, hier, wo nur das Rauchen der Wellen und nicht das Keifern stinkender Truckmotoren durch meine Ohren dringt.

Aber ich muss weiter.


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Was ich nicht weiß - nur wenige Dutzend Meter hinter dem Wald, den Dünen und der Strandidylle, hier, wo ich mir so allein, so verlassen, so gestrandet vorkomme, brandet die Riesenstadt Hamamatsu bis kurz vor das Meer. Nur wenige hundert Meter hinter mir verläuft die Route 1, die Megastraße, auf die ich heute auch noch muss. Leben tausende Menschen, stinkt es, rauchen Schlote und drängeln sich wieder schmucklose Häuser an einander.

Unfassbar, denke ich, als ich beim Pinkeln in eine Düne versuche, ein Geräusch wahr zu nehmen. Ich höre angestrengt ins Wellenkonzert, drehe meine Ohren in den säuselnden Wind, versuche, das Knistern des Dünengrases herauszufiltern. Nichts. Ich höre es nicht. Wo ist es hin?

Das Geräusch von 60 Trucks pro Minute?

Fototermin

Irgendwann, ich fahre immer noch am Strand. Immer noch auf der Bicycle Route, aber nicht mehr in offener Landschaft, sondern mitten durch den Dünenwald. Es ist wundervoll: Grillen zirpen, die Bäume schließen ihre Blätter über mir, ich fahre duch kühlenden Schatten. Es ist ein Traum und eine Entlastung für meine krebsroten Füße.

Dann knickt der Weg ab, ich stehe an einem Ufer. Okay, das wars, erkenne ich. Back onto the Street. Die Route 1 verläuft dann auch gleich keine 200 Meter neben mir. Es ist kurz nach Mittag, die Straßen sind - klar, Essenszit - etwas leerer als sonst, aber immer noch voller Autos und Trucks.

So fahre ich über eine Brücke und komme an zwei riesigen Hotels vorbei. Spa & Wellness, große Weltkette, modern, neu, Glasklotz. Und als ich mir die Spiegelungen der weit entfernten Bergketten in der Fassade beschaue, blitzt zwischen beiden Häusern, nur kurz, etwas Rotes auf. Mitten im Meer.


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Etwas Japanisches. Klassisches. Ich bremse, langsam, langsam, schaue, angestrengt, na? Sehe ich es noch einmal? Ja? Ja! Da ist es - ein Torii. Ein klassisches Torii.

Es steht mittem im Wasser. Perfekt. Denke ich sofort. Perfekt - das ist DAS Urlaubsfoto! Das ist DAS Titelfoto für meinen Reise-Blog.

Gesagt - getan. Ich fahre an das Ufer vor die Wellness-Oasen. Baue meinen Apparat auf, Selbstauslöser. Und los geht die Session.

Ein paar ältere Damen sitzen keine 50 Meter entfernt. Sie unterbrechen ihren Schnack und beobachten mich, wie ich zunächst anhalte, absteige und das Torii fotografiere. Es muss riesig sein. Steht da mitten im Wasser, grüßt den Ozean, grüßt die Wellnessgäste und grüßt die Benutzer der Autobahn, die nicht viel weiter über eine riesige Betonbrücke rauscht.

So stelle ich meine Cam auf, richte das Bild ein, da, das Torii muss drauf sein ... noch etwas links, noch etwas mehr links, so perfekt! Dann, 10 Sekunden Selbstauslöser, es blinkt, ich spurte zum Bike, Ständer einklappen, in den Sitz, rechten Fuß einklinken ... Scheiße, klinkt nicht nicht ein! Nochmal einklinken, aha, geht doch, einen Tritt, ich Rolle, cool aussehen, cool aussehen, nur nicht nach rechts schauen ... ich rolle, langsam, zittrig. Und? Fotografiert? Ja. Bremsen, zum Apparat rennen ...

Joa, sieht gut aus. Nur, dass ich genau vor dem Torii bin. Verdammt. Okay, also alles wieder auf Anfang. Rad zurück schieben - was gar nicht so einfach ist, da die Pier nicht so breit ist, dass ich die schwere Maschine bequem wenden könnte. Abstellen, halt, warte mal, die Kurbel drehe ich mal so hin, dass ich schneller hinein komme.

Wieder zur Kamera, wieder den Selbstauslöser auf 10 Sekunden. Nochmal am Bild gerüttelt. Alles perfekt. Okay, Auslöser. Läuft. Zum Bike rennen, herum, Ständer einklappen, in den Sitz rutschen lassen, einklinken - na bitte, klappt doch! - antreten, langsam, langsam, Rad stabilisieren. Langsam, langsam ... so, müsste gereicht haben, oder?

Mmh. Mist! Schon wieder vor dem Torii! Also wieder alles auf Anfang. Die Damen schütteln ihre Köpfe, über mir, in dem 40-etagigen Wellness-Hotel schauen sicherlich ein Dutzend Interessierter gerade zu, wie der Spacko aus dem Ausland hier versucht ein schickes Foto hinzubekommen. Naja, genießt die Show, denke ich mir, das dauert bestimmt noch eine Weile ...

Wieder: Foto einrichten, Rad zurück schieben, Auslöser, Run zum Rad - Scheiße! Habe mir den Steiß gestoßen, egal, weiter, in den Sitz, Beine hoch, langsam treten. Langsam. Nicht so herum eiern ... normal aussehen, hey, das soll das Titelfoto werden!

Ähm, das war zu langsam.

Mittlerweile läuft der Schweiß in Strömen. Auch geht das ewige hoch, runter, zurück spurten, hinsetzen und antreten langsam auf die Knie. Meine Güte, das kann doch nicht so schwer sein, ein simples Foto zu machen? In Canada habe ich mit dem Selbstauslöser die schicksten Fotos hinbekommen. Hier, in Japan, will ich nur dieses, nur dieses eine, und es klappt nicht?
Na, und ob!

Wieder richte ich die Cam aus. Parke mein Rad. So, jetzt reichts mir aber! Dieses Foto wird klappen. Es wird schick werden. Wird die Stimmung dieses Ortes einfangen. Es wird das Blau der Bucht zeigen, von der erhabenen Schönheit des Torii zeugen und im Kontrast mit der Autobahnbrücke im Hintergrund genau das abbilden, was Japan ist - Tradition und Moderne, Glaube an Götter und der Glaube an den Fortschritt.

Es wird mein Titelfoto. Es wird herrlich.

Da stehe ich nun. Zwischen meinem Liegerad und mir, das Torii. Im Hintergrund die Autobahn. Ein Dreiklang. Ein nettes Foto. Nicht so dynamisch, wie gewollt. Nicht so spektakulär, wie gedacht - aber nett.

Mehr als eine halbe Stunde habe ich hier herum gewurschtelt. Ich bin fertig, als ich die Kamera wieder verstaut und mich ein letztes mal ächzend in die Speedmachine sinken lasse - wow, das war eine Geburt!

Ich nehme mir vor, erst einmal ein paar Kilometer zu machen, bevor ich wieder eine Pause mache. Denn so, wie ich das sehe, kommt jetzt nur noch ein ... na, sagen wir ... 20 km langes Stück, und dann bin ich doch schon an der Fähre.

Autobahnstress. Bergtod. Wadenkrampf. Und Hunger.

Zunächst geht es aber wieder zurück an den Strand. Ein herrliches Stück folgt. Über mir die Route 1, die Straße, die ich eben noch von Weitem hinter dem Torii gesehen habe, rechts die Schattenhütten und links ein Strand, wie er im Buche steht - eine steife Brise treibt mich von hinten an, ebenso, wie die Surfer weiter draußen auf den Wellen.

So kann ich ein paar Kilometer fahren, immer wieder winken die Surfboys und Ladies, immer wieder atme ich in langen Zügen die leckere Luft ein, streiche mir den Schweiß von der Stirn und bestätige mir glücklich, was das doch für eine schöne Etappe sei, verglichen mit dem Stress von gestern.


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Ah, Stress. Wo ich es sage ... Plötzlich hört der Weg auf. Einfach so. Bumms! Die perfekt betonnierte Straße - weg. Sand. Tiefer Zuckersand. Davor, kein Schild, nein, zwei Betonblöcke, kniehoch. Sie lassen mich in der Mitte durch. Ich rase mit 30 km/h auf sie zu, unterschätze meinen dicken Arsch und bleibe in voller Fahrt mit der rechten Taschen hängen.

Bamm! Es gibt einen Schlag, das Rad macht einen Satz nach links, ich kann es gerade so abfangen. Meine Fresse, was war das denn? Ich halte an, wow, denke ich, kein Kratzer im Material. Gute Qualität, dieses Radical Design!

Mein Liegerad steckt in tiefem Zuckersand. Es erfordert einige Kraftanstrengung, es aus dieser Misere zu befreien.

Ein paar hundert Meter fahre ich zurück. Da entdecke ich eine Lücke im Zaun. Ich schiebe meinen schweren Drahtesel durch tiefes Gras und überbrücke einen Abwassergraben, als ich die kleine Dorfstraße erreiche, wenig später eine Auffahrt. Route 1. Autobahn. Na herrlich.


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Wie ein Schlag trifft mich der Verkehr. Wow, auf zwei Spuren überholen sie mich hier mit 100, 120 km/h - ungewohnt, bin ich doch die letzten Stunden eher in beruhigenderen Umgebungen gefahren.

Die Autobahn ist an dieser Stelle nagelneu. Das bedeutet, sie ist perfekt. Für Autofahrer. Der Seitenstreifen ist schmal. Der Belag schnell. Hüfthohe Schutzmauern. Zäune. Kein Gras. Kein Grün. Nichts. Ein speedoptimiertes Betonmonster, keine Rücksicht auf Radfahrer. Die sind hier zwar nicht verboten - aber die ganze Konstruktion schreit es förmlich hinaus: Verpiss dich, Radler, hier rollt der richtige Verkehr!


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Ich jubele, als ich kurz darauf eine Raststätte entdecke. Allein die Zufahrt hierher ist ein Abenteuer. Halsbrecherische Serpentinen und Spiralen, Über- und Unterführungen bringen mich zunächst auf einen riesigen Parkplatz und dann zum obligatorischen Fresstempel.
Unter - das kennen wir schon - allgemeinem Interesse parke ich mein Rad, schnalle den schweißnassen Helm ab und suche mir was zu essen und vor allem etwas Kühles zum trinken heraus. derweil postiert sich ein junges Pärchen interessiert vor meinem Liegerad.

Im Fressladen gibt es - na klar - wieder die riesige Einkaufshalle, prall gefüllt mit ausladenden Marktständen, die sauer Eingelegtes in allen möglichen Variationen feil bieten. Nichts für den Speedmaschinisten also.

Ich kaufe mir ein verpacktes Sandwich, ein Healthya-Wasser und genieße beides draußen in der Sonne. Ich halte dabei etwas Abstand zu meinem Rad, denn ich finde es interessant, die Japaner dabei zu beobachten, wie sie dieses - für sie komische - Fahrrad begutachten.

Sie grinsen, verbeugen sich leicht und sagen etwas, das sich wie "gute Fahrt" anfühlt. Ich lächle zurück, sage "Arrigato" und schnalle mir den Helm um. Kaum habe ich ihnen den Rücken zugewandt, merke ich in meinen Augenwinkeln, wie er seinen Fotoapparat heraus zieht und klar macht. Ich lasse mir nichts anmerken, klinke ein und fahre los, drehe eine Kurve auf dem Parkplatz und fahre noch einmal an beiden vorbei, dabei winke ich ihnen zu.
Nicht nur er, sondern noch zwei andere Herren machen Fotos.

Mit Liegerädern kann man sich hier wirklich wie ein Star fühlen, denke ich.

Wenig später hat mich die derbe Realität wieder. Ich schlängle mich über die Auf- und Unterführungen wieder auf die Route 1 zurück, die hier Highway spielt, fädele mich ganz links ein und versuche, meinen Beinen Vortrieb zu entlocken. Was auch gut geht, die ersten 500 Meter. Dann kommt eine lang gezogene Rechtskurve und vor mir taucht eine Rampe auf.

Kein Schatten.
Schön steil.
Nichts zum Anhalten, rechts ranfahren oder mal kurz ausspannen. Hier muss ich klotzen. Hilft nix. Neben mir rauschen die Autos vorbei, plärren die Trucks, wenn knarzend die kleineren Berggänge reingehauen werden. Und ich, ich schwitze hier schon wieder wie ein Schwein. Runterschalten, was solls.

15 km/h. Reintreten. Die Kette quält sich durch die Schutzrohre.
10 km/h. Die Waden stechen, übertünchen sogar das brennende Ziehen meiner total sonnenverbrannten Knöchel.
8 km/h. Meine Lungenflügel flattern, ich atme mir Hitze auf die Brust. Unglaublich langsam zieht sich jeder Meter hin, während jedes Auto, das an mir vorbeischießt, mit Warp unterwegs zu sein scheint.
5 km/h. Ich hasse es! Mal wieder. Tiefpunkt. 13 Uhr. Verdauungsblödheit.

Moment? Verdauung?

Stechender Hunger fährt mir durch den Magen. Ich schaue in den Rückspiegel und sehe, dass das Sandwich von eben da auf den 1.000 Metern hinter mir verbrannt worden ist.

Irgendwann, eine schmerzliche halbe Ewigkeit später, erreiche ich den Tunnel, den sie hier durch die Bergspitze getrieben haben. Kühle, segnende Kühle empfängt mich. Leider flacht die Steigung nur spärlich ab, sodass ich weiter schwer kurbeln muss. Erst, als ich aus der erholsamen Kälte der Röhre wieder hinaus in die sengende Hitze komme, auf der anderen Seite des Berges, geht es bergab. Schnell. Schneller. Wow, yeah! Ich merke, wie der Fahrtwind mir den Helm kühlt, langsam der Luftzug Zentimeter um Zentimeter meine nasse Kopfhaut trocknet, wie die Böen mir unters Trikot fahren, meine heiße Brust kühlen. Oh, welch´ Wonne! Welch ... Scheiße! Bremsen!

Mitte in der Abfahrt, gerade mal auf 40 km/h gekommen. Anhalten. Kurz, nachdem ich stehe, hat mich auch die Hitze wieder ein. Zwanzig Sekunden später wird es Grün und ich bin wieder Nass.

Und es kommt noch schöner. Herrlich, Straßenplanung aus dem Bilderbuch. Denn die Straße, auf die ich muss, führt auf dem Bergrücken, den ich gerade untertunnelt überquert habe, entlang. Das bedeutet, ich muss parallel zur Abfahrt, die ich gerade herunter bin, wieder hinauf fahren.

Ich biege ab und schalte wieder herunter.


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Es geht die kleine 402 etwa einen Kilometer bergan. Diesmal sehr schön - die Sonne scheint mir genau ins Gesicht. Und das knapp über meiner Sonnenbrille und kapp unter meinem Helm. Genau in die Augen also. Es ist steil hier, steiler, als die blöde Karte mir erzählt hat. Ich fluche mich stampfend die Straße hinauf. Oben angekommen, an der Kreuzung, wo ich rechts auf die 42 abbiege, rufe ich laut "Gott segne mich!", denn nun, so bilde ich mir ein, müsse ich nur noch ein bisschen die Küste entlang fahren, immer geradeaus auf der 42 und dann, gar nicht mehr so weit entfernt, würde die Fähre sein. Und dann wäre ich da.

Ganz einfach halt.

Irgendwie stimmt das auch, wie ich nach meiner Spaghetti Bolognese á la Nippon (mit Seetang mal wieder) und einem leckeren, eiskalten Latte Macchiato aus der Plastikdose erkennen muss.
Tatsächlich geht die 42 auch nur noch geradeaus.

Aber was zur Hölle sind das da hinten für verdammte Berge?
Ich ahne es.
Ich ahne es!

Allein, allein ...

Oh je, stöhne ich, als ich die ersten Kilometer nach meiner - hoffentlich letzten - Pause hinter mich gebracht habe. Das Fahren auf der 42 "anstrengend" zu nennen, wäre noch geschmeichelt. Alles ist wieder beisammen, alles kommt heute wieder auf ein mal: Das wäre zunächst die Hitze, die mich fertig macht. Es ist die heißeste Zeit des Tages, kurz nach Mittag, wenn die Sonne hoch oben steht, es keinen kleinsten Schatten gibt und ich blinzeln muss, um meine geblendeten Augen offen zu halten.

Mit der Hitze kommt der Schweiß. Er heftet an mir, hat Trikot und das gute Craft-Shirt durchweicht, er macht den Rücken klebrig, tropft auf meinen Rahmen und dringt auch in die kleinste Stelle meiner Handschuhe, die es schwer haben, mir sicheren Halt am Lenker zu verschaffen.

Die Waden, vor allem aber die Knie, schmerzen, brennen. Nein, es sind keine Knieschmerzen, die alarmierend wären, über die ich mich den Kopf zerbrechen müsste, nein, es sind einfach nur Schmerzen, die ausreichen, um mich im Kopf fertig zu machen: Au, hör auf zu fahren, 120 km reichen doch, hör auf, steige ab, baue irgendwo dein Zelt auf, hier ist es doch schön?!?

Die Lungen, die bei jedem Atemholen brennend flattern, leichte Kopfschmerzen in Wellen, die von unzureichender Hydration herrühren, obwohl ich schon trinke wie ein Schluckspecht. Kurz, es ist schlimm. Ich radle hier nicht, ich fliege nicht durch die Heide - ich leide durch die Heide.

Dabei wird es, seit dem ich die Autobahn-Route 1 verlassen habe, wunderschön. Die 42 ist eine kleine, gut ausgebaute, aber relativ ruhige Straße. Fast kein Verkehr, oft habe ich für Minuten beide Fahrspuren für mich, kann laufen lassen, mich umsehen, die Landschaft genießen.

Klar, dass es so ruhig ist: Geografisch gesehen fahre ich hier auf einem kleinen Landschnipsel, an dessen Ende nur eine kleine, klitzekleine, Fährverbindung auf wenige Fahrtgäste wartet. Der Hauptverkehr ist die Route 1 weiter nach Osaka nach Norden gefahren.

Dementsprechend einfach ist die Straße hier auch gebaut - keine Nivellierung. Keine Tunnels. Wir machen jeden Hügel mit, jede Erhebung, jede kleine Bodenwelle. Und davon gibt es hier genug. Ich muss mich kurze, giftige Steigungen hinaufkämpfen, habe ab und zu die zermürbenden, langen Rampen zu bewältigen und gern auch einmal tiefgeschnittene Täler mit ein, zwei ätzenden Serpentinen vor mir.

Und hinten, kaum näher kommend, egal, wie viel ich trete, drohen hohe Berge. Anfangs gebe ich mich noch der Illusion hin, dass das schon die Berge von Ise sein könnten - meinem Ziel für heute - aber ich merke schon bald, dass die noch sehr, sehr weit entfernt sind.

Dennoch, auch das Schöne legt sich mir in den Weg, einfach so. Auf einmal. Fahre ich durch kleine Dörfer, die mit einer Vielzahl von industriellen Gewächshäusern beginnen und dann historische Dorfkerne offenbaren, die zum Staunen verleiten. Keine Betonklötze, keine Erdbebenarchitektur - hier finden sich die ausladenden, geschwungenen Dächer wieder, große Holzhäuser, massive Shinto-Schreine und wunderschöne Gehöfte in typisch japanischem Stil.

Oft fahre ich langsam durch die in der flirrenden Hitze wie ausgestorben daliegenden Siedlungen, um die Tatami-Häuser mit den klassischen Papier-Fenstern genau beschauen zu können.

Als Wohltat für die Augen erweisen sich wahre Blumenwiesen, wilde, unbebaute Flächen - untypisch für Japan, eigentlich - auf denen mal rote, mal gelbe und mal lilafarbige Blumen wuchern. Dann liegt immer eine ganz besondere Frische in der Luft, zieht durch die Hitze, erfreut meine Nüstern, die sie begierig einsaugen. Mal was anderes als Abgas.

Hinten, links von mir, vielleicht einen, zwei Kilometer entfernt, bricht die Küste ab und mündet ins Meer, das da kühl und frisch schimmert am Horizont wie eine andere Welt, unerreichbar.

Allein bin ich hier, das wird mir schlagartig bewusst. Sonst in Gesellschaft blecherner Karossen, Dauerstau, zwanzig Augenpaare an jeder Kreuzung, die mich mustern, mir zunicken, auf mich deuten oder Fotos machen. Hier - nichts. Kein Mensch. Ab und zu ein Traktor weit entfernt, alle paar Minuten ein Kleinwagen. Doch sonst, nicht einmal Dorfhunde bellen, nicht einmal vor den Bushaltestellen Schuljungen. Nichts. Niemand.
Leer.

Bedrückend schön.
Reich und doch arm.
Fantastisch und ein wenig beängstigend.
Beruhigend und doch fühle ich etwas Unbehagen.

Ich bin zu lange in der Sonne gewesen? Keine Ahnung. Aber jede allzu intensive Denkanstrengung macht schon kurz hinter dem Dorfausgang die nächste Steigung zunichte. Der Alltag des Radlers, das Brot der Muskeln verlangt wieder Tribut - so kurbele ich mich wieder langsam den Asphalt hinauf in der Hoffnung, dass die Abfahrt auf der anderen Seite kurzzeitig Kühlung verschafft.
Und dass diese verdammt hohen Berge da hinten gefälligst schön nah am Strand und ohne Auf und Ab zu umfahren sind!

Sieg! Geschafft! Yeah!

Sind sie auch.

Welch ein Glück, ich grinse. Stehe da, atme, massiere kurz die Waden und blicke mich um: Neben dem Meer, eine Frischeorgie in Aquamarin, da hinten, da, fast schon im kühlen Dunst verschwunden, die Berge, die ich gerade umrundet habe. Und dann blicke ich auf den Weg, der unmittelbar am Wasser entlang führend wieder ganz neue Perspektiven eröffnet hat. Das heiße Inland, es liegt hinter mir. Die nervigen, unrhythmischen Hügel, ich habe sie gemeistert. Jetzt, so glaube ich, sind es nur noch wenige Kilometer, und ich habe es geschafft. Jetzt, so denke ich, geht es nur noch am Strand entlang.

Geht es auch.

Wahnsinn, denke ich immer wieder, wenn ich gegen die Sonne blinzele, zum Strand hinab blicke und die tolle Landschaft beschaue. Ein breiter, perfekter Sandstrand zieht sich da entlang, unberührt, unangetastet.

Keine tiefen Spuren der Geländewagen und Strandbuggies, die sonst bei allen Stränden, die ich gesehen habe, ihre Wunden hinterlassen im Zuckersand. Hier sind nicht einmal Fußspuren zu sehen. Coté Azur - ohne Menschen. Traumhaft, wie verzaubert, wie auf einem fremden Stern.

Ich genieße es regelrecht, schaue auf die Uhr, beschließe, dass es mit 13 Uhr noch sehr sehr früh ist und schalte einen Gang runter, fahre etwas langsamer, will mich erholen, jetzt, wo alles passt, und so gleite ich sanft an erholsamer Leere vorbei und frage mich, ob da, da genau da, hinter dem Berg, die Fähre wartet.

Tut sie auch.

Jedoch nicht, ohne vorher noch einen letzten Akzent zu setzen. Touren-Radfahren heißt irgendwie auch, dass Murphy´s Law doppelte Geltung hat: Die Steigung, die möglich ist, die kommt auch. So würde ich es defätistisch formulieren, ich muss grinsen, was, wenn nicht das, sollte ich auch tun? Heulen?

12 % Steigung steht auf dem Schild. Naja, rede ich mir ein, das hatten wir schon so oft, da schaffen wir die auch noch. Kleinstes Blatt. Kleinster Gang. Here i come ...

Und wie ich komme!

Ein - Oho! - wunderbarer Radweg, der zwar auch wunderbar steil, aber eben auch wunderbar gelegen, hervorragend asphaltiert und vollkommen gelöst vom Autoverkehr angelegt wurde, schlängelt sich extrem steil den noch steileren Berghang hinauf. Ich fahre mal unter Baumdächern in kühlem Schatten, befreiend und doch anstrengend, mal bleibe ich fast in der Senkrechten des nackten Felsens stecken und mal hangele ich mich auf 100 Zentimetern Breite gefährlich nahe an atemberaubendem Abgrund entlang.

Irgendwann komme ich aus dem Wald heraus und stehe am höchsten Punkt des Radweges - und bin überwältigt vom Ausblick. Und der Höhe. Wie schnell einen 12 % von Normalnull auf Wow! bringen können!

Ich verschnaufe kurz, denn nicht weit, kaum 2 Kilometer entfernt, sehe ich die Halbinsel enden, die ich heute aufgebrochen bin, zu erobern. Da hinten, das Kap. Da endet er also, der Trip. Ich kann unter mir als schmales Band im Wald den Radweg erkennen - eine krasse Abfahrt steht mir bevor, dann nur noch um den einen Berg herum und dann, dann bin ich doch schon da?!

Ich trinke in großen Zügen, lockere die Waden - freue mich, dass ich so schnell so weit gekommen bin, erschrecke fast, als ich an die fiese Autobahn von vorhin zurück denke, an den Qualm und das Abgas. So weit weg das alles, scheint es, hier, wo die Luft so klar, so frisch, so salzig-gesund auf der Zunge schmeckt.

Stolz geschwellt pocht die Brust, als ich mich in das Liegerad sinken lasse, die Schuhe einklinke und ansetze zu den letzten paar Kilometern dieser Etappe.

Ich schieße den Berg hinab, überhole einen Mountainbiker, der zunächst verwundert, dann freudig grüßt. Oben, auf der Straße, schnuffelt ein Reisebus langsam eine Serpentine hinauf, als auch ich mich in die letzte Steigung werfe, fünfzig Passagiere schauen mir zu. Ansporn. Ich winke. Keine Ahnung, ob sie mich oder die Felsen bewundern, die wildromantisch im Wasser vor der Küste im Meer Posten bezogen haben.

Dann ein Schild.
Ein großer Parkplatz.
Ein - klar - Sauer-Eingelegtes-Kaufhaus und ein Terminal.

Isewan - Kanko. Die Fähre zum Ziel. Ich parke das Rad. Und bin da. Scheiße, ich bin da!

Fährfahrterkenntnisse

Ich stehe eine Weile vor der Isewan-Fähre. Erstaunlich lustlos, so gar nicht japanisch-beflissen, wieselflink und arbeitssam versuchen Besatzungsmitglieder gelangweilt so zu tun, als arbeiteten sie. Oben an Deck stehen Drei, Vier herum und schauen immer wieder hinunter zu uns Passagieren, die in der prallen Sonne darauf warten, an Bord gelassen zu werden. Aber keiner kommt, um die Absperrung zu entfernen.

So nutze ich die Zeit, um einige meiner Schlangen-Nachbarn zu beobachten. Sie sitzen in ihren klimatisierten Karossen - mit laufendem Motor, selbstverständlich - und unterhalten sich nicht. Frau und Mann, nebeneinander, nur keiner redet. Versteinerte Mienen. Eiserne Gesichter.

Die Hitze ist erdrückend. Zähe Zeit fließt träge dahin. Selbst in ihren Klimakabinen bleiben sie nicht von diesem Slowmotion-Wurmloch verschont, hat es den Anschein.
Penetrant dudelt ein schlimmes Beatles-Cover aus blechernen Lautsprechern über den Parkplatz. "Let it be ...", säuselt eine japanische Dame ins Mikro.

Neben mir, im Grün, erscheint eine dicke Katze. Sie schaut sich um. Streckt sich, gähnt. Und dann geht sie zurück in den Schatten der Rabatte und legt sich wieder hin. Beneidenswert. Würde ich jetzt auch gern tun.

Erst, als ich eine Viertelstunde später an Deck stehe, kühler Fahrtwind und eine halbwegs erfrischende Brise wecken meinen Kaugummigeist auf, erst da wird mir klar, dass ich die Etappe beendet habe. Drüben, am anderen Ufer erwartet mich Ise, die heilige Stadt, die heiligste aller Stätten Japans. Der große und der kleine Ise-Schrein.

Ich gehe unter Deck, da mich eine Müdigkeit übermannt. Wie die dicke Katze streiche ich durch die Gänge und gelange irgendwo unten in einen riesigen Decksbereich. Anstelle von Sitzen oder Bänken, gibt es hier Liegebereiche. Harter Teppichboden, an Tatami erinnernd, ist ausgelegen. In Fächern harte Keilkissen in grünem Kunstleder für die Köpfe. Menschen liegen kreuz und quer.

Auch ich ziehe mir meine Schuhe aus. Setze mich hin. Mir gegenüber plärrt ein TV-Apparat irre Werbung in meine Müdigkeit. Bald schon liege ich da. Dann dämmere ich weg. Merke noch, wie ich mich leicht im Wellengang hin und her bewege, denke noch kurz an die dicke Katze im Busch, dann werde ich immer schwerer. Immer schwerer. Und schwerer. Dann verstummt das TV-Gerät in meinem bewussten Selbst. Auch mein Durst verschwindet. Dann schlafe ich ein ...

Wenn es dunkel wird, in Japan

Wow, denke ich, als mich die heiter klingende, piepshohe Stimme einer Lautsprecherdame weckt. Anscheinend sagt sie uns, dass wir in Kürze anlegen, was ich daran merke, dass meine Schlafgenossen sich ebenso wie ich den Schlaf aus den Augen wischen und zu ihren Schuhen krabbeln.

Schon legt sich das Schiff zur Seite - der Hafen ist wohl nahe.

Ich gähne, strecke mich und bin überraschend erholt. Eine und eine halbe Stunde hat die Überfahrt gedauert und ich habe fast die gesamte Zeit geschlafen. Erholt bin ich. Frisch irgendwie. Fühle mich stark. Überrascht, was so ein kleiner Schlaf ausrichten kann, gehe ich hinab in den Stahlbauch zu meinem Rad, schnalle es los und postiere mich an der Rampe.
Ein Ruck.
Ein Quietsch.
Ich bin drüben.
Ise-wan, die Halbinsel Ise.

Wo schlafe ich heute nur?

Als ich von Bord rolle wird mir klar, das ich hier gar keinen Zeltplatz habe. Direkt hier, in Toba, wie der kleine Hafenort heißt, ist nichts. Ein paar Hotels - meist Hochzeitshotels - werben mit freien Betten, aber mich zieht es in die Berge. Möglichst nah an Ise heran.

16:30 Uhr ist es. Und die Sonne schickt sich an, unterzugehen. Wie schon in den vergangenen Tagen beobachtet, versinkt sie hier nicht wie gewohnt langsam irgendwann, sondern sie geht ... einfach aus.
Es dämmert und ich weiß, dass ich höchstens noch eine Stunde habe, bevor es dunkel sein wird.

Dann bekomme ich Hunger. Ach schön, das auch noch? Ich krame in meinen Taschen und merke, dass ich zudem über fast keine Barmittel mehr verfüge. Verdammt - nur noch 3.000 Yen. Das reicht gerade mal für ein halbwegs üppiges Abendessen vom Conbini-Store, aber nicht für eine Zeltübernachtung, schon gar nicht für ein Zimmer in einem der Hotels.

So irre ich erst einmal 20 Minuten in Toba herum, bis ich in einem riesigen Department-Store eine kleine Bank mit einem ATM entdecke, der neben den 20 unterschiedlichen japanischen Kreditkarten auch meine - Visa - akzeptiert. 15.000 Yen später und etwas beruhigter suche ich einen Conbini und decke mich mit Sushi ein.

Dann beschließe ich, zu einem Zeltplatz irgendwo bei Matsusaka zu fahren. Kacke, denke ich, denn das sind noch bestimmt 20 Kilometer - eine Stunde Fahrtzeit. Also doch: Im Dunkeln ankommen. Ich hasse so etwas.


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Zunächst schlängelt sich die Route 23 in abenteuerlicher Manier durch dichte, enge Täler, durch einen Tunnel, mal durch Wald, mal direkt an der zerklüfteten Küste entlang.

Irgendwann, ich radle mich gerade in Rage, schaue ich nach rechts und erliege der Schönheit des Momentes: Die Sonne strahlt rot-golden die kleinen Inseln an, das Meer, kaum gekräuselt, lockt mit überbordendem Violett und das Grün des Waldes sinkt ins Graue ab. Eine sonderbare Stille liegt über dem Land. Hier, so beschließe ich, hier halte ich an. Was solls, dann komme ich halt später an, aber so einen Sonnenuntergang, den darf man nicht links liegen lassen.

Ich finde eine Kaimauer, parke das Liegerad und packe mein Sushi aus, setze mich auf den Stein und atme tief durch: Abendbrot!

Unter mir, in 4 Metern Tiefe, branded schlappend das tiefblaue Wasser an den Beton, auf dessen Erweiterung in einiger Entfernung ein paar alte Angler versuchen, dem Meer etwas Fischiges abzuringen. Autos fahren direkt an mir vorbei, aber das stört mich nicht. Ich drehe mich einfach um, lasse die Beine baumeln und esse die frischen Sushi-Happen, trinke ein kühles Healthya und erfreue mich an den reichen Goldtönen, die die Sonne da vor mir im Meer verschleudert.

Irgendwann wird es aber doch Zeit. Denn schlafen muss der Mensch. Und schon jetzt stehen weitaus mehr Kilometer auf meinem Tacho, als ich eigentlich geplant hatte.

Ich schaue auf meinen Campingführer, atme noch einmal tief durch und sattle mein Pferd. Los, Lars, noch einmal reintreten, noch einmal reinhauen und dann, in einer, vielleicht eineinhalb Stunden, da kannst du dich im warmen Schlafsack einmümmeln und schlafen.

So schieße ich los. Zurück auf die 23. Und schalte hoch. Trete mich in Rage. Schneller, immer schneller. Nun ists auch egal.

Route 23.
23.
Ist das ein Omen? Oh man!

Camping im Krabbentrail

Nun ists auch egal.
Egal ists.
Ach, was solls.
Eeeegal.

Ach verdammt, denke ich mir so, als neben mir dann endgültig die Sonne untergegangen ist und ich mitten im Feierabendverkehr - den ich sonst immer umgangen habe - schwimmen muss. Die 23 entfernt sich vom Wasser, zwar kann ich dort hinten, rechts neben mir noch das Meer sehen, aber dazwischen liegen 2, 3 Kilometer Reisfelder. Oder was auch immer das sein mag. Ich sehe ja nichts mehr.


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Dunkel ist es. Der Verkehr neben mir ist unerträglich. Alle Sekunde werde ich von den Autos überholt. Eine dicke, zweispurige Blechschlange dröhnt unaufhörlich an mir vorbei. Auto um Auto. Ihre Scheinwerfer blenden mich über den Rückspiegel. Der Gegenverkehr blendet von vorn.

Dafür komme ich schnell voran. 28 km/h. 30 km/h. 35 km/h.

Ich stoppe an einem Family Mart. 10 Minuten später hat man mir umständlich - da kein English - erklärt, dass ich weiter der 23 folgen muss, um zu meinem Zeltplatz zu kommen. Also wieder reingetreten. Rein in den Verkehr. Rein in die blendende Blechschlange. 35 km/h. Ich fliege. Nun ists auch egal, meine Beine haben es kapiert. Kein Widerstand mehr. Sie treten, wirbeln die Kurbel herum.

Nächster Conbini. "Straighto! Straighto!", sagt man mir. 25 km seit Toba. Was? So weit noch zum Zeltplatz? Ist ja unfassbar. Wieder fliege ich über den Asphalt. Mittlerweile ist es stockdunkel. Ich trete, wenigstens ist es un etwas kühler. Frisch ist was anderes, aber von 40 Grad auf angenehme 22 Grad - wie es am nächsten Store steht - ist schon ein Fortschritt.

Dort zeige ich wieder den Campingführer vor. Der Mann weiß nicht, wo der Platz ist. Ich hole meine Landkarte und bitte ihn, mir zu zeigen, wo "hier" ist. Er tippt mit den Finger drauf.
Verdammt! Ich wusste es. Ich war zu weit gefahren! An den Zeltplätzen - zweien mittlerweile! - vorbei. Scheiße, scheiße!

Ich entscheide mich. Wildcampen. Mittlerweile ist es 19:45 Uhr. Zur Stadt, nach Matsusaka, ist es zu weit. Für jetzt bin ich fertig. Ich kaufe mir eine Flasche Wasser. Und schaue draußen in die Dunkelheit.

Wohin soll ich? Wohin nur, keine Ahnung. Ich sehe nichts. Es ist stockdunkel. Deshalb, so kommt es mir wieder in den Sinn, sollte man immer am Tage seine Schlafstelle suchen. Naja, nutzt halt nix mehr.

Ich beschließe, gleich die dunkle Straße in Richtung Strand zu fahren. Wer weiß, vielleicht finde ich da wieder ein kleines Wäldchen, eine Wiese oder etwas dergleichen?

So taste ich mich vor, 5 Kilometer sind es zum Strand. Der Strand entpuppt sich als eine dieser massiven, 10 Meter hohen Betonmonster. Tsunamiwall. Ich fahre hinauf. Wasser schmatzt in der Schwärze. Es riecht nach Schiffsdiesel. Das Ufer weit weit weg ist hell erleuchtet. Draußen dümpeln Fischerboote, was ich an den Lämpchen sehen kann. Wie Sterne in tiefer Nacht. Sterne, die ich über mir auch sehen kann.

Neben dem Wall ist sogar ein Wald. Ein Wäldchen. Naja, da stehen 5 Bäume in der Nacht. Aber: Wo Bäume sind, ist auch Gras. Ideal für mein Zelt.

Ich rolle hinab. Zwischen die Bäume. Und stutze. Was ist das? Ein Garten? Komische kleine ... Betonteile sind da im Boden. Wie überdimensionale Beet-Blättchen, diese Dinger, die meine Ma immer im Garten in die Beete gesteckt hatte, wo drauf stand, was dort dereinst wachsen würde. Diese hier aber sind größer, vielleicht 30 cm hoch und aus Beton.

Ich schalte meine Stirnlampe an. Und schaudere. Das "Beet" entpuppt sich als Friedhof.

Ich parke in stockdunkler Nacht mitten auf einem Friedhof. Nee, lass man, Zelten muss hier nicht sein ... Ich drehe um, entschuldige mich still bei den Toten und suche nach einer anderen Stelle. So entdecke ich einen kleinen, dafür immer noch betonnierten Weg, der zwischen die stockdüsteren Reisfelder führt. Den nehme ich.


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Ich taste mich langsam vorwärts. Immer mehr in die Nacht. Kein einziges Haus im Umkreis von mindestens 5 Kilometern. Nur Felder. Beete. Reis. Reis. Reis. Und neben mir, hoch oben, die Tsunami-Mauer. Da entdecke ich sie, die Stelle. An einem Streifen auf Gras, umringt von Bäumen. Perfekt.

Ich parke das Rad und inspiziere die Bodenbeschaffenheit. Super! Also, alles abladen und aufbauen. Zunächst den Boden nach Steinen absuchen. Ich sehe einen Großen, will ihn weg kicken, als der mir ... seine Krallen entgegen streckt.

Eine Krabbe so groß wie ein Kindskopf!

Ah, wow! Ich lasse sie auf meinen Schuh krabbeln und stoße sie vorsichtig ins hohe Gras weiter weg. Dann baue ich mein Zelt auf. Routine, es geht schnell.
Ich gehe in die Knie, um einen Hering einzuschlagen, als ich die nächste Krabbe sehe. Etwas kleiner, aber auch feuerrot. Auch sie in Abwehrhaltung. Auch sie wenig später im hohen Gras.

Als das Zelt steht tarne ich noch die Speedmachine. Und, was soll ich sagen, ich kann kaum treten vor Krabben! Alle paar Dutzend Zentimeter eines dieser Riesenviecher. Ich bin zu fertig, als dass sie mich stören. Sollen sie doch krabbeln, die Krabben!

Als ich endlich die Zähne geputzt habe und im Sack liege, versuche weg zu dämmern, höre ich es ... kratz ... kraaaaatz ... kraaaaatz.

Krabben kratzen am Zelt.
Krabben krabbeln rund um mich herum.
Kratz.
Kraaatz.

Oh man, denke ich noch, als ich endlich wegdämmere. Oh man. Ich schlafe. Schlafe ein. Fast ... da schießt mit quietschenden Reifen und heulendem Motor ein Auto auf einmal um die Ecke. Lautester Krach, sofort fährt mir ein Höllenschreck in die Glieder, es wird taghell rund ums Zelt, ein Motor kommt immer näher, ich habe wieder nur die Gaze geschlossen, kann also raus schauen. Das Auto fegt an meinem Zelt vorbei, schleudert um die enge Ecke und - da der schmale Weg an der Tsunami-Mauer endet - kommt per Vollbremsung vor dem Damm stehen. Ein Rückwärtsgang wird knarzend eingeworfen. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Scheiße, was soll das?!? Das Auto wendet wie in einem Steve McQueen-Film, wieder blenden Fernlichter genau mein Zelt, mein unter einer Silberplane steckendes Liegerad muss jetzt hell erstrahlen wie ein Stern. Das Auto schießt auf mich zu. Ganz nah nun, ganz nah, ganz laut, ich bin geblendet, lauter Motor, mein Herz pocht, meine Schläfen pulsieren ... wruuuum! Schon schießt es an mir vorbei. Es quietscht noch ein, zwei mal, dann ist es weg.

Äh, okay?!

Ich schüttle meinen Kopf.
Träume ich wohl vielleicht schon?
Nee. Noch nicht.
Äh, okay. Japan, rede ich mir ein. Japan. So, es war nur ein ein Auto. Und nun schlaf! Schlafe endlich. Und ich schlafe langsam ein.

Kratz.
Kraaaaatz ...

Gefahren: 176,5 km in 7:38 Stunden mit einem 23er Schnitt.