Cycle Tokyo

Tag 1: Liegerad-Stadtrundfahrt mit Cycle Tokyo!

Na, Rehlein? Schock überwunden? Frage ich mich, als ich meine Augen öffne. Es ist 7 Uhr, über mir schnuffelt sanft die Klimaanlage und draußen vor dem Fenster steht noch die Dunkelheit. Ich blinzele, schalte das kleine Licht an und starre an die Decke.

Tokyo also. Ich kann es immer noch nicht glauben. Gestern noch schnacke ich mit einer Freundin in Duisburg, gestern noch telefoniere ich mit meinen Agentur-Kunden, gestern noch spreche ich mit meinen Eltern am Telefon.
Und heute bin ich schon in Tokyo.
Japan.
Andere Seite des Erdballs.

Ich bin hier, weil ich wissen will, wie es ist, Alien zu sein. Wie es ist, sich in einem Land zu bewegen, dessen Kultur so fundamental anders ist, als die meiner Heimat. Dessen Schrift nicht lesbar ist. Dessen Sprache nicht zu verstehen ist. Mimik, Gestik, Gos und No-Gos. Alles anders. Ich will es wissen. Wie ist das?

Und dann starre ich auf mein Handy. Treuer Begleiter, Brücke nach Hause, Twitter-Device. GSM funktioniert in Japan nicht. Kein Twitter. Keine SMS an Freunde. Keine Brücke. Es bleibt stumm. Wenn Alien, denke ich, dann richtig.
Und ich seufze, denn ich ahne, dass das noch Probleme geben wird.
Aufstehen. Hör auf mit Denken, raus aus dem Bett!

Ich bin hier in Shinjuku. Hier, wo Tokyo am tokyotesten ist, hier, wo der Bär steppt, die Luzie abgeht, wo die Kamerateams hingehen, wenn das Drehbuch Aufnahmen aus Tokyo benötigt.

Hier ist es, wo diese riesigen Kreuzungen sind, die man kennt, aus Filmen und Dokus. Diese Kreuzungen, bei denen entweder der Verkehr oder die Fußgänger Grün haben - und bei denen dann mal locker 4.000 Leute losgehen, wenn sie dürfen.


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Und hier. Mitten im Hotspot von Japans Hauptstadt, hier habe ich mein Hotel.

Und ich wundere mich, denn heute Nacht habe ich nichts von draußen mitbekommen. Nichts gehört. Kein Hupen. Kein Brüllen. Keine Sirenen. Nicht, dass meine Fenster so Schall-proof wären. Nein, es ist nur anscheinend wirklich so, dass Tokyo für eine Großstadt extrem leise zu sein scheint. Wenn ich da so an New York City denke ...

Das Roboterklo und lecker Frühstück

Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Morgentoilette. Ich setze mich auf Selbige ... und muss fast wieder aufspringen. Augenblicklich wird die Brille heiß. Naja, der Schreck. Warm wird sie. Turboheizung. Sobald ich sitze, veranlasst ein Sensor eine ultraschnelle Heizschlange im Sitz, diese zu erwärmen.

Zudem beginnt es, schon einmal vorzuspülen. Warum auch immer.

Japanisches Roboterklo. Viel gehört. Viel gelesen. Nun also ... unter mir.

Ich will gerade loslegen, da beginnt die Instrumententafel, die neben mir an der Keramik angeschraubt ist, zu blinken. Zudem löst irgendetwas eine leichte Intervallspülung aus. Dabei habe ich noch nicht mal einen Pups gelassen?!

Ich bin verwirrt. Darf ich nun, oder nicht? Jetzt? Ja? Unverständliche Zeichen blinken. Ich lehne mich zurück, betrachte die Konsole und seufze: Dabei will ich doch nur dem Morgen ... seinen Lauf lassen, hätte ja keiner ahnen können, dass ich hier Space Shuttle-Technik zu bedienen habe!

Ich stehe auf. Hose runtergelassen, wir sind ja unter uns. Ich gehe zum Schreibtisch (das Klo spült in einem kurzen Flush) und blättere in den Hotelinfos. Vielleicht steht ja etwas zu diesem Digitalmonster da. Englisch-japanische Bedienungsanleitung für die Fernbedienung, den Porno-Receiver, das Kartenschloss, das Frühstücksbüffet. Keine Kloanleitung.
Verdammt.

Es wird wieder heiß an den Backen, als ich zu Versuch Nummer 2 Platz nehme. Wieder die bekannte Intervallspülung. Wieder nervöses LED-Geblinke auf der Star Trek-Konsole unter mir.
Ich halte es nicht mehr aus - die U-Bahn ist sozusagen schon im Tunnel. Morgengeschäft - auch wenn ich auf der anderen Seite des Ozeans bin, es muss sein.

Ah, welch´Wohltat.

Über 24 Stunden Anreisestress, Airline-Essen, tonnenweise Schoko-Snacks, Snickers, Erdnüsse, Bier und Anderes sind raus. Ein unansehnlicher Haufen. Aber Robo-Klo wird es schon richten. Denke ich mir.

Falsch gedacht.

Ich stehe auf, erwarte die Spülung (hat ja vorhin auch schon prima geklappt). Nichts. Nichts rührt sich. Ich setze mich wieder - Aha - Heizvorgang, Vorspülgang. Kenne ich schon. Toll. Spülen sollst du, spülen!
Stehe auf - signalisiere, ich bin fertig - und? Nichts.
Mmh.

Ich klappe den Deckel zu. Das internationale Zeichen für "Ich bin fertig".
Wieder nichts.
Deckel auf. Hinsetzen. Hitze. Gar nicht mehr so angenehm.

Die Konsole. Ich beschaue sie mir genau. Da sind viele Schriftzeichen. Eine rosa Taste. Ich schätze, die ist für die Damen. Und eine mintgrüne Taste. Die dürfte für den Herren sein. Oder für ... mintfrischen Duft?

Ich probiere die hellgrüne Taste. Und bin etwas überrascht, als ein harter Strahl genau in die Mitte meines Pos trifft. Zur Hälfte, die andere Hälfte spritzt an meinem Kinn vorbei an die Klotür. Pospülung.

Ich drücke weiter Tasten. Nun ists auch egal, denke ich mutig. Aha, man kann die Härte des Strahls regulieren. Und hier seine Temperatur. Angenehm. Wirklich. Sehr angenehm.

Aber Rosettenmassage ist nur mein sekundäres Problem, denke ich. Stelle den sanften Analstrahl ab und suche weiter. Auf den Test der Rosataste verzichte ich. Ich entdecke eine Taste für mehr Hitze in der Brille. Eine Taste für ... ja was? Es gurgelt, offensichtlich fließt innen im Robo-Klo irgendwo Wasser, aber es passiert nichts.
Alle Tasten probiert. Keine Spültaste.

Wieder stehe ich auf. Der Po tropft.
Automatikspülung?
Fehlanzeige.

Deckel zu.
Auch nichts.

Ich bin ratlos.
Hocke auf meiner warmen Brille.
Spüle mir noch mal den Po. War so schön. Und schaden kanns ja nicht.
Aber loswerden tue ich das Zeug nicht. Langsam kommt auch die arme Klimaanlage nicht mehr mit. Im elften Stockwerk kann man auch die Fenster nicht öffnen. Und ich weiß, wenn ich das hier nicht bald beende, hat meine Suite getönte Scheiben.

Der Peinlichkeit halber ist ein Anruf unten bei der Rezeption sinnlos, zumal ich mir dieses Gespräch vor allem des gebrochenen Englischs wegen sehr ... komplex vorstelle.

Nein, ich muss das alleine lösen.
Das ist meine Mission.
Stehe auf. Gehe noch einmal alle Tasten durch. Beschaue mir meinen Freund. C3PKlo. Mein digitaler Hygienefreund. Höhepunkt der HighTech-Klo-Industrie. Next Generation of Morningschiss. The Future of Stuhlgang.

Und entdecke an der Seite den Spülhebel.

An einem digitalen, sprechenden, automatischen, Wünsche von den Lippen ablesenden, Rosetten (und was sonst noch so alles) massierenden High-Tech Klosett. Ein Hebel. Unfassbar.

Nach einer Stunde. Ich habe meine erste Hürde genommen! Also, wenn schon das Klospülen so eine Geburt und alles in Japan so kompliziert ist ... was wird mich dann noch alles erwarten?!?

Frisch geschniegelt stehe ich 20 Minuten später unten vor dem Restaurant. Frühstück - der Höhepunkt aller Hotelaufenthalte! Frischer Kaffee, Croissants (oder meinetwegen auch Brötchen), Marmelade, Wurst, Käse, Obst und Gemüse. Dazu sanfte Büffetmusik, frische Blumen auf den Tischen. Herrlich.

"Ohayu gozaimas!", rufen drei, vier Restaurantbedienstete von denen ich nur eine wirklich sehen kann. Sie lächelt, verbeugt sich und nimmt mir den Frühstückscoupon ab, den ich zuvor für 860 Yen wenige Meter weiter ziehen musste.

"Ohayu gozaimas!", rufe auch ich, Guten Morgen auf Japanisch, und stürme an die Auswahl. Eine lange Tafel, über und über beladen. Ich darf wählen.

Und stutze: Kalter Reis mit frischen Frühlingszwiebeln und wahlweise Aal oder Lachs. Dazu eine Schüssel heiße, klare Brühe mit Nudeln. Dazu eine kleine Tasse mit einem halb gegarten Ei. Kopfsalat mit Algenschnitzel oder ... ja, was ist das? Glibberalge, würde ich sagen. Dazu Wasser oder grüner Tee.

Die Croissants. Die Marmelade. Den Kaffee. Suche ich vergebens.

Aber hey, ich bin in Japan. Will ja hier sein, weil ich Land und Leute kennen lernen will. Und wenn das gesündeste Volk der Erde zum Frühstück kalten Reis mit Algenglibber isst - dann kann das so falsch nicht sein, oder?

Ich setze mich mit meinem Tablett an einen der freien Tische. Die sanfte Büffetmusik ist hier ein übergroßer LCD-Screen auf dem laut schnatternd eine grell geschminkte Dame in einer Tour brabbelt. Die anderen Frühstücker starren unaufhörlich auf die Mangafrau, während sie blind, dafür erstaunlich zielgenau, mit ihrem Stäbchen die vollen Schüsseln in ihre Münder schaufeln. Lautstark. Ab und zu wird auch geräuschvoll der Morgendnasenschleim hochgezogen. Das ist hier wohl so.

Der kalte Reis (mit Frühlingszwiebeln und Lachs) geht ganz gut. Croissants mit Nutella wären mir lieber, gebe ich zu, aber Reis, Fisch - das sind wertvolle Kohlenhydrate und Proteine. Das halbgare Ei stelle ich wieder hin. Abgesehen davon, dass ich es eh nicht auf meine Stäbchen bekommen habe, weigert sich meine gute deutsche Erziehung, den Eierschleim einzusaugen. Beim Salat wird es salzig - Algen halt.
Der grüne Tee, ungesüßt, na klar, kann die gute alte Jacobs Krönung auch kaum ersetzen. Einzig die Nudeln - ohne wirklichen Geschmack zwar, aber lecker heiß - können mir ein Grinsen entlocken.

Ich bin satt. Mein erstes japanisches Frühstück. Und ich komme mir peinlich berührt wie einer dieser verachtenswürdigen All-inclusive-Deutschen vor, die auf ihr Schnitzel-mit-Pommes nicht verzichten können.

Tokyo ist leer

Heute folgt die Einweisung ins Thema Fahrradfahren in Japan. Linksverkehr. Eine der größten Städte der Welt. Rush-Hour. Asien. Das wäre mir allein zu heikel. Gottseidank entdecke ich bei meiner Recherche zu diesem Trip im Internet die Jungs von Cycle Tokyo! die die Antwort auf alle meine Fragen haben.

Ats und Maki treffen pünktlich, wie über Twitter verabredet, um 10 Uhr in der Lobby meines Hotels ein. Ich stehe da, in voller Speedmachine-Montur, das Rad dabei. Sie grinsen, verbeugen sich, "Ohayu gozaimas" und Händeschütteln.

Sie heißen mich in Japan willkommen, fragen wie der Flug war, nicht halb so anstrengend wie Eure Robo-Klos, antworte ich. Sie grinsen - ich bin nicht der erste Gaijin, der da seine liebe Mühe mit hatte.

Cycle Tokyo! bietet einige Fahrradtouren durch Tokyo an: Die klassische Route mit Kaiserpalast, Shinto-Heiligtümern und dem "alten" Tokyo, die "Schlemmertour" von Restaurant zu Restaurant, die "Shoppingtour" und und und.

Ich möchte von allem etwas, sage ich. Ats und Maki beraten sich und machen schnell eine Strecke aus.

Ats spricht hervorragendes Englisch. Abgesehen davon, dass er lange in den Staaten gelebt hat, arbeitet er als Entwickler bei einem Mobilfunkanbieter. Und so, wie hier die Japaner ihre Flatrate-Internet-Zauberhandys benutzen glaube ich, dass er da eine Menge zu tun hat.

Maki ist Entwickler bei Canon. Der Ruhigere von beiden, aber nicht weniger sympathisch. Beide fahren auch Liegeräder. Ats ein kompaktes, klappbares, leichtes "Bike Friday", Maki ein Sesselrad, dessen Hersteller ich nicht erkennen kann.

Wir schieben mein Rad nach draußen und laufen vor zur Kreuzung, wo die beiden Ihre Räder angeschlossen haben. Es gibt eine letzte Einweisung: Ich fahre zwischen den beiden. Immer so weit links wie möglich fahren. Auf offene Türen, Fußgänger und Taxis achten. Rote Ampeln ... Halt. Mmh. Soweit so gut, bis auf das Linksfahren wie in Deutschland.

Und los geht es. Ah, welch´ Erleichterung, denke ich, als ich endlich meine Schuhe in die Pedale einklinken und reintreten kann. Etwas ungewohnt, vermisse ich bei den schon in Fleisch und Blut übergegangenen Blicken in den Rückspiegel ... den Rückspiegel.
Denn der ist ja nun rechts angebaut.

Die ersten Meter sind ungewohnt, aber okay. Vor mir fährt Ats, hinter mir Maki. Ich fühle mich sicher. Die beiden sind äußerst aufmerksam, zeigen Fahrtrichtungswechsel nicht nur an, sondern führen förmlich ein Ballett auf: Wollen wir rechts abbiegen, so strecken sie ihre Arme komplett, vollkommen waagerecht zum horizont und so weit wie möglich nach rechts aus.
In Deutschland würden wir augenblicklich zum Drogentest angehalten werden. Hier ist das wohl so üblich.

Zunächst fahren wir durch Shinjuku, das gerade aufsteht. Der Verkehr ist mäßig, Großstadt eben, aber auch nicht viel dichter als in Berlin oder Hamburg. Was mir auffällt - die Autos hupen nicht. Die Autos drängeln nicht. Die Autos scheinen uns nicht auf dem Korn zu haben. Was ist denn mit den Japanern los?

Wir kommen super voran. Wir fließen mit dem Verkehr, ich habe mich schon nach 10 Minuten ans Linksfahren gewöhnt, nur, dass mein Rückspiegel an der Stelle, wo ich ihn kenne, fehlt, kommt mir noch komisch vor, da ich immer ins Leere blicke.

Die Straßen füllen sich merklich. Autos, Taxis vor allem, aber auch sehr viele Kleinwagen, eckige, dennoch geräumige Kisten. Ein wenig nerven tun mich die Busse - ständig habe ich mein Auge im Rückspiegel, schaue, achte, rätsele, ob beim Linksverkehr aus "Rechts vor Links" dann "Links vor Rechts wird". Muss aufpassen, Beschleunigen, Bremsen, Schauen, Rollen, Bremsen. Aber wir fließen - erstaunlich gut.

Wir stehen mal wieder an einer roten Ampel. Neben und zwischen uns eine Horde Blechkarossen. Ats dreht sich zu mir um und fragt, ob ich klar kommen würde. Ja, meine ich, ist ja kein Problem, den Verkehr habe ich mir auch schwerer vorgestellt.
Ats´ Antwort: "Wir haben hier gerade 4 Tage Ferien - Tokyo ist leer."

Äh, aha.

Shinto-Götter stehen auf Stretching

Es geht nach Osten, etwa 3 oder 4 Kilometer, da stoßen wir auf eine Querstraße, dahinter Bäume. Maki steuert voran, steigt mitten im Fahren elegant von seinem Bike und deutet auf ein Schild. Es ist eine etwa einen Meter große Holztafel. Auf ihr - wie sollte es anders sein - ein japanisches Schriftzeichen - Kanji genannt.


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Aha. Mache ich. Und steige auch ab. Ats erklärt, dass wir hier an einem Staatsheiligtum sind, einem Shinto-Schrein, und dass bei all diesen Plätzen das Radfahren verboten sei. Aha, das merke ich mir - Shinto = nicht Radfahren!


Wir schließen die Räder an einem Zaun an. Die Menschen, die hier herum laufen, nehmen zunächst keine Notiz von uns. Scheinen zumindest keine Notiz von uns zu nehmen, denn in meinen Augenwinkeln kann ich sehen, wie sie sich umdrehen, uns beschauen, den Gaijin - Ausländer - mit den beiden Landsleuten.

Auf einer Säule empfängt uns die übergroße Statue eines Samurai. Genauer gesagt, so erklärt mir Maki, sei das General Omura Masujiro. Der Begründer der modernen japanischen Armee. Mmmh, denke ich - Shinto, Tempel und Armee. Wie kann das zusammen gehen?

Wir stehen eine Weile vor dem großen bronzenen General. Ich weiß nicht, ob den beiden die bohrenden Blicke der anderen Besucher gewahr werden, aber schon bald schieben wir uns im Strom der vielen anderen Besucher in Richtung des Tori, des traditionellen Torbogens, hinter dem der Schrein, der eigentliche Tempel ist.

Japanische Flagge, Zedernholz, es duftet nach Räucherwaren, Touristen, alte, sehr alte Menschen, Familien mit Kindern, Schulklassen - eine illustre Besucherschaft.

Dann stehen wir vor dem Schrein. Ats erklärt mir, dass die blumenartigen Grafiken auf dem riesigen weißen Stofflaken das kaiserliche Siegel seien. Und Maki fügt hinzu - dies ist der wichtigste Schrein Tokyos, wenn nicht ganz Japans. Deshalb zeigten sie ihn mir.

Wir gehen, wie viele andere auch, in einer Reihe langsam die hölzernen Stufen zum Inneren des Schreins. Ein Polizist, würdevoll, ruhig, bewacht das Heiligtum. Maki beginnt, in seiner Tasche zu kramen, Ats tut es ihm nach.
"Du brauchst etwas Geld", sagt er.
Also krame auch ich in meiner Tasche. Etwas peinlich, im Angesicht der Shinto-Götter meine Sicherheits-Reisebrieftasche herauszuholen und in den 100-Yen-Stücke zu wurschteln.

Dann sind wir an der Reihe. Auf einmal stehen wir vor dem Heiligtum, die letzten vor uns drehen sich um, gehen. Hinter uns, das merke ich am Gemurmel, stehen Dutzende an.

Ats flüstert mir zu: "Okay, first: Throw the Money. Second: One Bow. Third: Two Claps. Last: Two Bows."
Äh, aha. Okay. Wie? Geld werfen, verbeugen? Klatschen. Ein mal, zwei mal? Wie jetzt?!?

Da schon fliegt das Kleingeld der Beiden in hohem Bogen auf den Schrein zu, fällt vor ihm in eine große - Gottseidank nicht zu verfehlende - Kiste durch einen Holzrost.
Ich werfe meine 300 Yen hinterher.
Ats und Maki verbeugen sich schon - ich tue es ihnen nach und nehme schnell meine Hände wieder runter, denn ich war fast dabei, schon jetzt zu klatschen. Verbeugen. Verbeugen. Mein Gott, wie lange verbeugen die sich denn?
Sie richten sich auf.
Ich mich auch. Es knirscht im Rücken.
Shintogötter stehen auf Stretching.

Dann heben sie - langsam, rituell - die Hände.
Klatschen zwei mal. Ich also auch. Klatsch - Klatsch.
Dann wieder verbeugen. Tief runter. Hände flach auf die Oberschenkel, Oberkörper gerade lassen, runter. Runter. Unten bleiben.
Oh, welch´ Erlösung, wieder hoch.
Und wieder runter. Runter. Es tut weh. Unten bleiben. Noch ein bisschen. Wieder hoch.
Ahhh, knacks, ächz, ich lebe noch!

Dann drehen wir uns andächtig um. Na, sie drehen sich andächtig um - mir ist zu schwindelig. Stretching ist nicht so meins. Wir verlassen die Empore, treten nach unten.

So. Nun habe ich die Schutzgötter Tokyos also um Beistand für meine Reise gebeten, frage ich Ats. Der lächelt milde und schüttelt seinen Kopf - nein, ich habe den Gefallenen der japanischen Armee meinen Respekt erwiesen.

Und dann dämmert es mir.

Dies ist der Yasukuni-Schrein. Ort bitterster Kontroversen. Denn hier wird nicht nur den Armeehunden, Brieftauben, Arbeitspferden und normalen Soldaten, sondern ausdrücklich auch bewiesenen Kriegsverbrechern, die auf diesem Areal nach den diversen japanischen Eroberungsfeldzügen begraben liegen, gedacht.

Und ich erinnere mich daran, dass es alljährlich schlimme Diskussionen gibt, wenn nämlich der japanische Ministerpräsident hier her kommt, das Shinto-Stretching macht und damit auch die Kriegsverbrecher offiziell von Staatswegen ehrt.

Na, schön, denke ich - dann war die erste Amtshandlung meiner Tour neben dem verkorksten Morgenkack also das Verehren japanischer Massenmörder. Wenn das mal kein gutes Omen ist?

Des Kaisers Burg

Wir lassen den kontroversen Ort, an dem mittlerweile 2,4 Millionen Menschen verehrt werden, hinter uns und fahren weiter. Wir schlängeln uns durch den Berufsverkehr, bis wir eine breite Allee erreichen, auf der kein einziges Fahrzeug zu sehen ist.

Es handelt sich um die Straße, die rund um den kaiserlichen Palast führt, der wie eine mittelalterliche Burg von einem tiefen, sehr breiten Wassergraben umgeben ist. Manchmal, so erklären mir Maki und Ats, sperrt die Stadt diese Straße für Autofahrer, sodass Radfahrer, Inlineskater und Fußgänger die bis zu 80 Meter breiten Boulevards ganz für sich allein haben.

So wie heute. Wir kommen an einer Art Straßenfest vorbei. Ein Parcours für kleine Radfahr-Änfänger ist aufgebaut. Polizisten und Eltern helfen den kleinen Stützradbikern um die Pylonen herum. Süß, wie sie mit ihren Uniformen und den gelben Basecaps - das Zeichen für die kleinste Altersklasse der Schüler - fleißig strampelnd die Hindernisse meistern.

Freilich nur bis zu dem Punkt, an dem sie unsere Räder erblicken. Zudem noch eines mit einem Gaijin - da stockt es auf dem Parcours und die Jungs und Mädchen winken mir freundlich zu.
"Konnichi wa!", rufe ich.
Sie antworten und grinsen bis über beide Ohren.

Dann erreichen wir einen großen Platz. Polizei bewacht ihn, aber weit weniger, als ich das vom Kauserpalast erwartet hätte. Klar, wer nur die Hochsicherheits-Maßnahmen der deutschen Polizei etwa an U.S.-amerikanischen Konsulaten kennt, den wundert es, dass der japanische Tenno von nur vier kurzärmeligen Stadtpolizisten bewacht zu sein scheint

Viel kann ich nicht sehen. Das Eingangstor, dahinter, schon zwischen Baumwipfeln, das Gebäude der kaiserlichen Palastverwaltung - mehr sieht man nicht.
Es gäbe hier den Balkon, erklärt Maki, auf dem die kaiserliche Familie zu Neujahr erscheint, dann stehen Tausende Tokyoter hier versammelt, nehmen die guten Wünsche des Kaisers auf und antworten mit begeisterten "Banzai!"-Rufen.

Auf mich wirkt dieser Ort fremd. Verwunschen irgendwie. Und deplatziert. Wenn ich mir vorstelle, dass an dieser Stelle schon der alte Edo-Palast gestanden hatte, ist es kaum zu glauben, dass gleich hinter der Prachtstraße, gegenüber des mächtigen Kaiserpalastes, die atemberaubenden Wolkenkratzer stehen, die Glaspaläste der noch mächtigeren Banken, Investmenthäuser und Mega-Konzerne.

Und mitten drin - eine grüne Oase mit Kirschbäumen, geschwungenen Dächern und einem Kaiserpaar. Japan, da ist es wieder, dieser attraktive Gegensatz zwischen High-Tech-Land und Monarchie, zwischen Microchip und Samuraischwert.


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Wir bleiben ein paar Minuten stehen. Maki fragt, ob ich näher heran möchte, aber ich winke ab - mir reicht es, einen Eindruck vom Palast zu haben. Kaiser und Könige sind nicht gerade das, was mich wirklich brennend interessiert.

Ich würde einen Campingführer benötigen, beginne ich vorsichtig fragend. Immerhin hat meine Recherche in Deutschland ergeben, dass Japan über 3.500 Campingplätze hat - nur leider findet Google Maps nicht einen einzigen. Logisch, ich beherrsche ja auch weder Kanji noch Kana, die beiden Schriftzeichensätze.

"Da haben wir eine Idee", sagt Ats. Grinst. Und los geht es.

Eine Stadt aus Büchern

Wir verlassen die schöne leere Straße. Fast trifft er mich wie ein Schlag, der Stadtverkehr im "leeren" Tokyo: Massen an Vans und Lieferfahrzeugen, gern in Doppelreihe mit laufendem Motor nach amerikanischer Unsitte geparkt, dazu Trucks (was zur Hölle suchen die in der Innenstadt?) in Hülle und Fülle, Taxis ohne Ende und die normalen Autos. Da reichen selbst 4-spurige Prachtsstraßen nicht aus.

Dennoch kommen wir erstaunlich gut voran. Ob es daran liegt, dass der japanische Kraftfahrer genauso höflich im Verkehr ist, wie auch ohne Motorisierung? Immerhin höre ich kein Hupen, es wird nicht gedrängelt, wenn einer durch Blinken einen Spurwechsel andeutet, macht der Hintere augenblicklich Platz. Es läuft. Es läuft reibungslos - der Verkehr ist harmonisch wie eine Teezeremonie. Ich bin begeistert.

Wir kommen von den skyscrapenden Wolkenkratzern in eine Gegend, wo die Häuser noch unter 20 Stockwerke haben. Dafür werden die Straßen enger, die Werbetafeln bunter, größer und auch die Geräuschkulisse nimmt zu: Wir sind in Takeshita dori, sagt Maki. Was das bedeutet, merke ich gleich.


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Dies hier ist das "Bücherviertel" von Tokyo, erklären sie. Und tatsächlich, es reiht sich ein Buchladen an den nächsten. Vor den Second-Hand-Läden stapeln sich vergilbte Wälzer in meterhohen Türmen, die Manga-Läden werben mit schrillbunten Riesenfiguren von Pokemons, Daemon-Raidern und allerlei anderen Gestalten, aber auch moderne Großbuchhandlungen, Spezialbuchhandlungen, Adultbuchhandlungen und und und finden sich hier. Bücher. Papier. Die Straße riecht nach Bibliothek.

In einer - wirklich dunklen - Seitengasse ketten wir unsere Räder an. Ats hat einen bestimmten Laden im Visier. Wir treten ein. Es ist einer der größeren Läden. Regale auf doppelter Mannshöhe (dabei sind die Japaner schon so klein), Ablagesysteme in Kana, mir vollkommen verschlossen bleibende Beschreibungen, welche Genres, welche Bücherarten und welche ... Buchstaben in den Regalen gefeatured werden.

Rege Betriebsamkeit, sanfte Dudelmusik. Menschen schmökern, blättern, laufen umher. Ats schaut - wo ist die Outdoor-Abteilung? Dritter Stock. Wir fahren Fahrstuhl. Kurz bevor die Tür zugehen kann, drängelt sich noch ein Herr zu uns in die Kabine. Er verbeugt sich atemlos, murmelt " ... gozaimas" und dreht sich von uns weg. Er muss im Zweiten raus. Beim Gehen verbeugt er sich noch einmal leicht in unsere Richtung, murmelt wieder sein " ... gozaimas" und geht.

Wir suchen, finden aber keinen einzigen Campingführer. Ah, dabei sind die Japaner doch so Outdoor-verrückt?! Eine junge Angestellte, weiße Handschuhe, hilft uns. Wenig später halte ich einen Campingführer für 1.000 Yen in meinen Händen. Ich kann kein einziges Wort lesen - dafür enthält er eine Karte Südjapans, wo ich radeln will.
Ats hat die glorreiche Idee, ich könne meine Etappen abfotografieren, aber die 1.000 Yen hab ich auch noch.

Ich kaufe ihn, arrigato gozaimas!

Meine größte Sorge, ich müsse mir jeden Tag eine Stelle zum Wildcampen suchen, ist damit ausgeräumt. Ich werde tolle Campingplätze haben, mich duschen können und wer weiß, vielleicht sogar andere Camper kennenlernen?

Oh-Shi-Kuru in Shibuya

Glücklich, nun endlich zu wissen, wo mich meine Etappen hinführen werden, steige ich zurück auf meine Speedmachine - und wundere mich, dass man in dieser Millionenmetropole ein 5.000 Euro teures Liegerad, nur notdürftig mit einem labberigen Ringelschloss gesichert in einer dunklen, schmalen Seitengasse stehen lassen kann. Ats und Maki hatten sogar ihre Bike-Computer auf den Rädern gelassen ...

Wir schieben auf die Straße, biegen von den völlig überladenen Gehsteigen auf die Straße ab und ordnen uns in den Stadtverkehr ein - der heftig, aber längst nicht mehr so chaotisch ist, wie er mir noch vor einigen Stunden erschienen war.

Unsere Fahrt geht nach Shibuya, dort, so sagt Maki, finden sich die Elektronikfachgeschäfte und zahllose Läden für all die Mangabesessenen. Zwar würde mich ein Bummel durch die neuesten Errungenschaften der High-Tech-Industrie schon reizen, aber als ich ein paar Kilometer später sehe, was ein wirklich von Menschen verstopfter Gehsteig ist, reicht mir die Aussicht vom Seitenstreifen.

Überall blinkt und glitzert es, Lautsprecher hämmern japanische Pop-Musik und Technorhythmen in die Betonschluchten, Tausende kämpfen sich im Schneckentempo von Glitzerladen zu Glitzerladen.

Ab und zu halten wir, lassen neue Massen über die Zebrastreifen. Dann lehne ich mich zurück, genieße die Hitze - immerhin haben wir um die 25 Grad hier in Japan - und beobachte, wie sich das Chaos durch stilles Einvernehmen der Teilnehmer selbst eine Ordnung gibt. Und ich bin fasziniert.

Da kommt mir das Oh-Shi-Kuru-Lied aus "Two and a half Men" ein. Und ich summe und summe und summe ... "Who´s the guy who had to die?"
Und muss grinsen. Ich atme, tief. Durch.



Atme, genieße es. Es scheint, als sei ich angekommen. Etwas Anspannung fällt ab. Etwas von dem steifen Schreck, der mir seit gestern im Rücken sitzt, mich unentspannt werden ließ, mir nachts den Schlaf geraubt hat. Es fällt ab. Ich verschränke die Arme, noch immer Rot an der Ampel über uns. Noch immer dasitzen, warten, Massen schieben sich vor uns über die Straße.

Und ich? Ich komme in Tokyo an. Endlich.
Ats dreht sich um. Grinst. Ich nicke ihm zu. Und grinse auch.

Toll, hier zu sein!

Japan Cycling - die Tricks

Wir fahren weiter, tiefer nach Shibuya hinein. Ich habe es mir doch gewünscht - Ats hat mir abgeraten, es wäre "die Hölle", aber wenn ich schonmal hier bin, will ich auch die Hölle sehen. Ich merke bald, was er meint.


Die Straßen - wenn man das überhaupt so nennen kann - werden schmal. Schmaler. Schmal. Nur über uns die Skyways sind noch modern. Der Rest hat die Maße eines vergangenen Jahrhunderts. Wo die Verkehrsplanung nur Rickschahs vorsah.

Tiny. Irgendwann gibt es keine Autos mehr, was eine Wohltat ist, aber dafür befinden wir uns in einer Fußgängerzone, ich habe das Gefühl, dass all die Tausend Leute, die vorhin über die Ampelkreuzungen dahingeflossen sind, sich nun hier austoben: Modelabels, hippe, stylishe Shoppingläden - klein, aber oho - und die tokyoter Bohéme drückt sich durch die höchstens 3 Meter breiten Gassen.

Und wir mittendrin. Im Schritttempo geht es hinter aufgepimpten Japan-Queens her, wir drücken uns knirschend an aufgemotzten Japan-Hippstern vorbei. Aus den Läden schwappen House-Rhythmen und treibende Bässe über unsere Helme hinweg. Die Schwüle, der Beat, all das steckt an. Wie gern würde ich absteigen, mir ein Beck´s kaufen und einfach nur vor einem der Läden abhängen, mit Freunden, der DJ legt auf, die Sonne knallt ... aber hey, wir sind ja nicht in Hamburg St. Georg im Kyti Voo.

Irgendwann, ich schätze, so nach einer halben Stunde und mehr als ... eintausend Metern, haben wir Shibuya wieder verlassen. Toll, finde ich, mir hat es dort sehr gefallen. Aber als Liegeradler war das dann doch der falsche Aufzug, dort zu erscheinen. Ich merke mir, bei Gelegenheit die Gegend als Fußgänger zu erkunden.

Ob ich Hunger hätte, fragt Ats. Klaro. Ist ja Mittag.
Da ich beide gebeten habe, mir beim Kauf des Shinkansen-Tickets zu helfen, schlagen sie vor, zur Tokyo-Station zu radeln, das Ticket zu kaufen und dann gleich essen zu gehen. Gesagt getan.

Wir kennen das schon: Rein in den Verkehr. Und wie ich mich freue, endlich keine Enge mehr. Und hey, auch der Qualm und der Feinstaub all der Trucks und Vans, deren Auspuffe genau in Höhe unserer Atmungsorgane liegen, können mich nicht davon abhalten, es zu genießen, mal wieder 30 km/h fahren zu können.
Nach 20 Minuten erreichen wir Tokyo Station.


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Wieder: Fahrrad abstellen und sichern. Ich bewundere das Vertrauen der beiden in ihr dünnes Schlösschen. Und gleichzeitig mein Vertrauen in ihr Vertrauen, denn ich hänge an dem sprichwörtlich seidenen Stahlfaden der beiden mit dran.

Wir lassen die Räder an einem Baum angekettet zurück und gehen in das Terminal. Es wird gerade umgebaut, weshalb mir die wahre Pracht des Bauwerkes hinter Planen und unter Platten verborgen bleibt - nicht verborgen aber bleibt mir das unendlich scheinende Gewusel tausender Leute, die mal mehr, mal weniger eilig durch die engen Gänge huschen. Immer wieder dazwischen Gaijins, Ausländer, Touristen - Gedankenverloren, verwirrt, meist mit Stadtplänen ausgestattet (die sie ganz offensichtlich nicht lesen können). Wie Felsen in der Brandung halten die Konglomerate nichtwissender Ausländer den steten Strom der Berufspendler auf.

Wir kommen in einen Saal, der voller Automaten steht - und hier merke ich wieder, wie gut es war, die Jungs von Cycle Tokyo! angeschrieben zu haben. Zwar vermute ich, dass die Roboter-Verkäufer auch einen Englisch-Modus haben, aber als ich die tausend Knöpfe, blinkenden Displays sehe und merke, wie selbst Japaner ratlos vor den Teilen stehen, bin ich froh, das Ats und Maki zu den bemannten Ticketkabinen gehen, wo wir nach zwei, drei Minuten anstehen auch gleich an die Reihe kommen.

So bekomme ich den Japan Cycling Tip #1: Im Shinkansen, dem berühmten Hochgeschwindigkeitszug der Japaner, kann man durchaus sein Fahrrad mitnehmen, dann aber immer ganz hinten den Platz buchen, denn da sind noch 40 cm Zwischenraum, wo man das Rad bequem unterbringen kann.

19.000 Yen später halte ich das Ticket für den Nozomi Shinkansen von Hiroshima nach Tokyo in meinen Händen - 6 Stunden Zugfahrt. Oder sollte ich Zugflug sagen?

Wir gehen in ein kleines Tempura-Restaurant im Bahnhof, ich breite meine Karte aus und zeige den Jungs meine Strecke.

Sie haben an sich nichts auszusetzen, nur geben sie mir Japan Cycling Tip #2: Immer die großen Straßen fahren. Soll heißen, je mehrstelliger und je höher eine Straße nummeriert ist, desto unwichtiger ist sie. Und dann laufe ich Gefahr, auf eine Straße zu geraten, bei der die Schilder nicht mehr bilingual, sondern nur noch in Kana sind. "And then - you are lost.", sagt Maki.
Ich glaube es ihm, denn er hat dieses wissende Zen-Lächeln.

Wir verspeisen das leckere Tempura. Und da ich weiß, das Cycle Tokyo! kein Geld kostet, lade ich die Jungs wenigstens zum Essen ein. Sie danken es mir mit einer Verbeugung und einer Extraschleife zum Tokyo Tower.


Es dämmert schon. Und ich wundere mich, ist es doch gerade mal 16 Uhr. Aber tatsächlich, es wird schummerig in Tokyo. Komisch.

An einem der alle 200 Meter aufgestellten Getränkeautomaten machen wir halt, Ats holt sich ein Wasser und wir beraten, was wir nun noch machen wollen. Ich merke den beiden an, dass wir die Tour jetzt auch gut abbrechen könnten. Ich weiß, sie sind zu höflich um mir zu sagen, dass sie gern nach Hause möchten, also bitte ich sie nur noch, mich zu dem "Gurkenhaus" zu bringen. Dieses gemüseartige Glasgebäude, das ich von meinem Hotelfenster aus sehen kann. Das hat es mir irgendwie angetan.

Ah, Nishishinjuku, sagen sie. Ja, kein Problem, das läge ja quasi auf dem Weg.
Wir bahnen uns über allerlei verlassene und mehr oder weniger ruhige Gassen und Nebenstraßen den Weg aus Shibuya heraus. Dabei kommen wir an einem wirklich gut ausgestatteten Bike-Shop vorbei.


Scheinbar hat dieser mir unverständliche Hype um das Fixie auch von Tokyo Besitz ergriffen und so stehen einige zugegeben sehr ansehnliche Modelle für Kaufwillige bereit.

Dann geht es aber auch schon wieder auf die großen Straßen. Für mich, im Sandwich bei Cycle Tokyo! mittlerweile kein Problem mehr - ich mache es jetzt sogar so, wie die beiden, und fahre bei Rot an den Autos vorbei über die Stopp-Linie bis vor auf die Kreuzung, dort, ganz nahe, wo die Autos vorbeikommen. So sind wir bei Grün meist schon auf der anderen Straßenseite, wenn uns die Autos der eigenen Fahrtrichtung überholen.

Alter Hase, denke ich anerkennend selbstsicher. Und ertappe mich dabei, wie ich falscherweise wieder aus Reflex nach links in den nicht mehr vorhandenen Rückspiegel versuche zu blicken.

Ratlos am Rathaus

Nach Nishishinjuku gelangen wir schnell. Dieser, komplett aus dem Boden gestampfte Bezirk prägt einen großen Teil der Skyline Tokyos. Wolkenkratzer und Glaspaläste, alle weit über 100 Meter hoch, stehen hier dicht an dicht, vergleichbar mit dem Financial District an Manhattans Südspitze.

Wir machen eine kleine Pause, Ats nimmt noch einen Schluck, ich staune, mache Fotos und Maki erklärt mir, dass hier das Rathaus von Tokyo sei.
Wie?
Wo?
Welches denn?

Na die alle. Alle hier. Er deutet auf uns umstehende Wolkenkratzer hin. Es sind zwei riesige, dem Empire State in nichts nachstehende Megatürme, verbunden durch einen Bau, der allein schon mächtig genug gewesen wäre, mir ein langes "Ahhhh, wow!" zu entlocken.

Ich blicke nach oben.
Rathaus also.

Unglaublich. Aber Tokyo, so erklären mir Maki und Ats, Tokyo als Stadt selbst gibt es gar nicht. Im Zweiten Weltkrieg (allerdings nicht wegen ihm) ist die alte Stadt Tokyo aufgelöst worden.
Heute bezeichnet man Tokyo als das, was die über 20 administrativen Bezirke sind. Das, was man als Stadt bezeichnen könnte, hat mehr als 8 Millionen Einwohner.

Aber Tokyo ist mehr. Denn mittlerweile ist die Stadt Yokohama, im engeren Sinne der Hafen Tokyos und fest mit der Stadt verwachsen, Teil dieses Gebildes. Und wenn man die ganze Metropolregion betrachtet - die größte der Erde - so hat diese mehr als 40 Millionen Einwohner.

Und da, muss ich sagen, bleibt mir wirklich der Mund offen stehen. Denn 40 Millionen Mann, das ist die Hälfte der ganzen Bundesrepublik. Die nur hier lebt. Hier in dieser "Stadt", in der ich gerade meine ersten Liegerad-Gehversuche gemacht habe.

In diesem Lichte erscheint mir selbst das Riesenrathaus viel zu klein.

Und dann bekomme ich doch noch meine Gurke. Ich mag dieses Haus. Klare, geometrische Linien - und doch organisch, rund, fast sinnlich. Ich mag es. Freue mich richtig - und merke, wie ich den beiden schmeichle.

Es sei die Kunsthochschule, erklären sie mir.
Studieren müsste man nochmal ...

Dann bringen sie mich heim. Zurück ins alte Shinjuku zu meinem japanischen Best Western. Es war eine tolle Fahrt, Ihr Beiden! Ich bedanke mich, freue mich, bedanke mich noch einmal.
Sie wünschen mir alles gute, machen mir Mut, geben mir ihre Nummern, falls was ist, könne ich immer und jederzeit anrufen. Dann verbeuge auch ich mich - und bin wirklich ein bisschen traurig, als mich Maki und Ats verlassen. Und ich allein in der Lobby stehe.

Neben mir die treue Speedmachine. Draußen wird es dunkel. 17 Uhr.
Die drei Rezeptionisten hinterm Tresen verbeugen sich lächelnd, als sie mich sehen. Und ich bin wieder allein. Im Aufzug. Kommt sie auf einmal zurück, diese Melancholie. Ich bin allein.

Home sweet home?

Da sitze ich nun vor meinem Abendessen - Sushi, grüner Tee, Salat. Kohlehydrate für morgen. Ich will so viel tanken, wie möglich.

Im TV schnattern sie bei abstrusen Game-Shows. Ich beschaue mir kauend die Karte für morgen. Zum Fuji-san, dem mystischen, heiligen Berg der Japaner soll es gehen. Raus aus Tokyo. Raus aus dieser Megastadt. Rein in die Natur.

Ich schaue auf das Höhenprofil. Über 2.400 Höhenmeter stehen da. Das ist genauso viel Höhenarbeit wie bei meiner härtesten Etappe in den kanadischen Rocky Mountains. Na, ein Glück, dass ich mir zwei Packungen Sushi geholt habe, denke ich.

Ich dusche.
Ich packe meine Taschen.
Überprüfe das Rad und stelle den Wecker.
Früh soll es losgehen.

Da fällt er mir wieder ein, Ats´ Japan Cycling Tip #3: "You don´t have to stop at the Stop-Signs. But the Drivers expect you to."
Aha. Noch so eine Zen-Weisheit.

Ich kann nicht einschlafen.

Gefahren: 32,77 km in Zentral-Tokyo.
Und damit habe ich nur noch 1.470 km vor mir.