Tsu viel geschlafen.

Tag 5/Ruhetag 1 - Ausspannen. Irgendwie.

Oh, man!, stöhne ich. Oh man, oh man! Mein Rücken schmerzt, meine Augen brennen, die Lider schieben sich so schwer über die Augäpfel, als seien sie aus nassem Frottee. Druck hinter der Stirn, Weiches verstopft die Nase. So schlecht habe ich noch nie geschlafen. Unbequem ist es. Und heiß war es, gestern, als ich versucht habe, nach dem komischen Auto-Angriff den Weg ins Traumland zu finden. Und dann, vor ein paar Stunden, schwappt die Kälte vom Meer her über den Tsunamidamm, kriecht den Beton hinab, sammelt sich am Boden und quillt ins Zelt.

Neben mir, nicht weit entfernt, höre ich ein Auto im Leerlauf parken. Ich schaue auf meine Uhr. 5:12 Uhr steht da. Man man man, so früh noch! Wieder drehe ich mich, bibbernd ziehe ich meine Knie zum Oberkörper heran, die Isomatte unter mir ist zu schmal. Alles klebt und ist mit einer Schicht kalten Kondenswassers überzogen. Ich drehe mich auf meinen Bauch und starre nach draußen: In etwa 100 Metern Entfernung ist ein Bauer dabei, sein Feld zu bearbeiten. In Sichtweite. Aha, denke ich mir. Aha.

Ich dämmere noch einmal kurz weg, werde aber von einem weiteren Auto geweckt. Wieder in Sichtweite, noch ein Bauer. Ich sollte wohl besser aufstehen.

Als ich neben meinem Zelt stehe und mir die Stelle bei Tageslicht beschaue, muss ich mich beglückwünschen - besser hätte ich mir diese nicht aussuchen können. Naja, bis auf die Krabben, aber die sind heute morgen auch alle weg. Schlafen wahrscheinlich. Hinter meinem Zelt ein kleines, etwa 15 Meter breites Wäldchen, dahinter die Tsunami-Mauer. Richtige Wohnhäuser sehe ich erst in 2, 3 Kilometern Entfernung. Perfekt.

Ich putze mir die Zähne, es fröstelt, dann ziehe ich mich um. Stinkende Klamotten, die alten von gestern, denn ich beschließe etwas: Heute suche ich mir ein Hotel. Richtiges Bett. Richtig schlafen. Richtig baden. Und Klamotten waschen. Und das Hotel, so beschließe ich weiter, wird das erste gute sein, das ich finde.

Wenig später fahre ich los, schlängle mich den engen Weg zurück auf die Deichstraße - die Bauern bemerken mich nicht einmal. Dann wieder 2 Kilometer zurück an die Route 23, wo ich beim Family Mart erst einmal halte, um zu frühstücken.

Neben mir parkt ein Truck der japanischen Armee. Junge Rekruten springen von der Ladefläche und stürmen mit dröhnenden Stiefeln den Store. Wenig später sitzen alle wieder auf - die Uniformen, vor allem aber die Mützen erinnern mich an klassische Weltkriegsfilme. Nur die Coca Cola-Dosen passen nicht so recht ins Bild.

Gestärkt durch Schokokuchen (mit Bananengeschmack) und allerlei Kaffee bin auch ich wenig später wieder auf dem Seitenstreifen der 23 - Ab ins Hotel!

Never go back!

Ich denke nach, während ich mit knirschenden Knien im Morgenverkehr mitschwimme. Schade, schade, muss ich sagen, am größten Heiligtum des Shintoismus in Japan, dem inneren und dem äußeren Schrein von Ise, bin ich gestern in meinem Sushi-Wahn vorbei geschossen.

Ise, so wird mir klar, wäre nur kurz hinter Toba in den Bergen gewesen. Anstatt noch 25 Kilometer in die Nacht zu fahren, hätte ich es wagen und dorthin fahren sollen. Dort hätte ich sicher auch Hotel gefunden. Und könnte mir heute ganz in Ruhe an meinem Ruhetag die berühmten Schreine anschauen. Nein, Statt dessen bin ich in Richtung Matsusaka weiter gefahren wie ein Irrer.

Wenig später komme ich wieder über eine der lang gezogenen Brücken, an deren Ende ein riesiges Schild: "Matsusaka Campground". Äh, bitte? Ich fliege wütend über die Kreuzung, schaue nur kurz nach rechts und merke, dass ich gestern wohl doch nicht an allen beiden Zeltplätzen vorbei bin, sondern nur an einem. Ah, sehr gut. Wäre ich nur ein bisschen weiter gefahren, hätte ich ... aber egal, was solls. Die Nacht war auch so ... ganz nett.

Und hey - Regel Nummer 1 beim Radfahren: Never go back!

(Keine) Verhandlungen im Castle Inn

Aber was solls, denke ich mir. Dann sehe ich die berühmten Schreine halt ein anderes mal. Schade. Meine Touren, vor allem die, die ich allein bestreite, sind sowieso mehr als sportliche Events denn als Sightseeing angelegt. Ich hätte das Shinto-Heiligtum gern mitgenommen, aber soll halt nicht sein. Anstelle nun einen 60-Kilometer-Umweg in Kauf zu nehmen und übermorgen alles noch einmal fahren zu müssen, schaue ich lieber nach vorn.

Und da liegt Tsu.

Ich komme der Stadt immer näher. Wieder häufen sich die Patchinko-Hallen, die Autohäuser und -werkstätten. Blauer Himmel steht über mir, es ist kurz vor 9 Uhr, die Route 23 hat den großen Morgenansturm hinter sich.

Es stehen 30 Kilometer auf dem Bike-Computer, zu viel, will ich doch heute meinen Ruhetag einlegen. Müde bin ich noch immer. Nur die Motivation, gleich in einer heißen Wanne und dann in einem echten Bett zu versinken, treibt die so schnell an, dass ich eine 30 halten kann.

Tsu heißt mich mit einer bescheidenen, aber durchaus beeindruckenden Skyline willkommen. Ich stoße ins Stadtzentrum, ein großer Boulevard mit extrabreiten Fahrtspuren und beeindruckenden Palmen auf dem Mittelstreifen verleiten mich zum Rechtsabbiegen. Rechts, das heißt hier in Richtung Meer. Und am Meer hat man mehr Chancen auf ein halbwegs gutes Hotel.

Hoppla, schon stehe ich vor einem. Das Castle Inn. Sieht nett aus. Ein - für japanische Erdbebenmonotonie - wirklich noch als "schick" zu bezeichnener 20-stöckiger Betonklotz, viel Messing, das wie Gold tut und, als ich hineinkomme, ein sehr höflicher Rezeptionist.


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Ob sie denn ein Zimmer hätten.
Natürlich, entgegnet er.
Wie viel es denn kosten würde. "One night, non-smoker.", frage ich.

Der Herr nimmt einen Block und schreibt "6.400" darauf. Obwohl der Kurs 1:135 steht, rechne ich sicherheitshalber mit 1:100 - ist leichter und die dadurch höheren Euro-Preise verleiten mich zum Sparen. Hoffe ich. Also 65 Euro? (Eigentlich ja 48 Euro).

Super, das hätte ich gern.

Er freut sich, fragt untertänigst, ob er meinen Ausweis kopieren darf - gerne doch - ich hole schon einmal mein Rad und die Taschen hinein. Er runzelt kurz die Stirn, als er die Speedmachine sieht, aber ich beruhige ihn: "No Problem, it´s clean."
Er lächelt, will etwas sagen. Frech kommt durch, denke ich mir, und sage: "No Problem, I will take it up, it´s clean." und ich lächle entwaffnend.
Er gibt auf - wahrscheinlich ist seine Schicht eh gleich zu Ende, und sagt "Gozaimas."
Alles klar.

Ich bezahle. Visa durch den Reader. Sehr gut.
Dann runzelt er wieder die Stirn. Er fängt an, auf Englisch zu stammeln: "Sorry. Check-in ..." und er deutet auf seine Uhr.
Es ist 9:30 Uhr. Okay?!?
Dann hält er mir einen Flyer hin. "Check-in 2 p.m." steht da.
Aha, mache ich.

"I´m so tired. I need to go to bed.", flehe ich ihn an.
Er nickt verständnisvoll, nimmt wieder seinen Geldblock und schreibt eine Zahl auf: "65 Yen" steht da. Bestechungsgeld?

"Per hour." sagt er.
Ach so - 65 Yen pro Stunde, die ich zu früh bin? "Hai!"
Verhandelbar?
Wohl nicht.

Weitere 290 Yen werden von meiner schicken Plastikkarte abgebucht.
Zwanzig Minuten und drei Fahrstuhlfahrten später habe ich meine Klamotten im Zimmer. Ich schalte die Klimaanlage an.

Das Bett lockt.
Die Wanne bezirzt mich.
Aber ich kann nicht. Noch nicht. Vorher die Pflichten.

Wa
s(ch) zu erst kommt, trocknet zu erst.

Ich taumele. Bin so müde, dass ich kaum noch meine Augen offen halten kann. Das Bett winkt so verführerisch, wie eine Sirene, weißes, weiches Laken, warmer, langer Kimono und das Versprechen eines langen, erholsamen Schlafes - Paradies, nachdem die heutige Nacht auf dem Krabbentrail nichts weiter als ein Daliegen mit relativer Ruhe, keinesfalls aber Schlaf, geschweige denn Erholung war.

Doch zuerst muss ich meine Wäsche waschen. Und da die trocknen muss, nutze ich jede Minute, die ich habe. Ich lasse Wasser in die Wanne ein. Rei aus der Tube gedrückt, es schäumt zunächst. Doch als ich 5 Minuten später die alten Unterhosen, Radklamotten, Socken und Trokots durchwalke, bleibt nichts weiter übrig als eine dunkelschwarze Lorke.

Nicht so übelriechend, da parfümiert, aber Ekel erregend allemal - diese Mischung aus Asphalt, Abgas, Feinstaub und Körpersäften habe ich am Körper getragen?

Nach 20 Minuten habe ich alles gewaschen, gespült und ausgewrungen. Genauso fühle auch ich mich - leer. Bereit, zum Trocknen aufgehangen zu werden.

Ich spanne meine multifunktionellen Gurte quer durchs Hotelzimmer, stelle die Klimaanlage so ein, dass ei Großteil des Luftstrahls genau auf die Sachen zielt und hänge meine Wäsche auf. Binnen zwei Minuten sieht das ehemals aufgeräumte, etwas spießige Zimmer aus, als würde eine mittelgroße Zirkusfamilie hier seit 2 Wochen kampieren.


Doch das stört mich jetzt nicht, denn auch draußen prangt das "Bitte nicht stören"-Schild (zumindest hoffe ich, dass das da dran steht) und ich lasse mich, nachdem auch ich mich kurz abgeduscht habe, ins Bett fallen. Das lange, ausgiebige Vollbad hebe ich mir für ... nachher auf. Jetzt muss ich erst einmal schlafen.

Müde.
Müde bin ich ...
Und schlafe sofort weg. Es ist 11:30 Uhr.

Kratz.
Kraaaatz, macht es in meinem Traum. Aber jetzt, jetzt grinse ich nur, stopfe mir die kuschelige Decke zwischen die Beine und drehe mich der Länge nach auf eine andere Seite. Gute Nacht, ihr kleinen Traumkrabben.

Looking for Food

Es ist gegen 15 Uhr, als ich aufwache. Ein wenig gerädert, aber das war ja zu erwarten. Über mir surrt immer noch fleißig die Klimaanlage und trocknet meine Klamotten. Ächzend pelle ich mich aus meinem Bett, schlurfe ins Bad und lasse die Wanne ein. Ein schönes, heißes Vollbad, ja, das ist genau das, was ich jetzt brauche.
Zehn Minuten später sitze ich in ihm.

Japanische Hotelbadewannen haben eine Eigenheit. Sie sind nicht zum Baden gedacht.

Denn obschon der Japaner an sich ein Reinheitsfanatiker und Verehrer aller Arten von Körperhygiene ist, kann man die knapp 1,10 Meter langen Badewannen eher als Sitz- oder Stehgelegenheit denn als Wanne bezeichnen.

Eigentlich funktioniert das so: Der Japaner duscht sich sauber, seift sich dabei ein und reinigt sich. Dann geht er - in den Kimono, den das Hotel bereit stellt - in das "Onsen" genannte Gemeinschaftsbad des Hotels, wo er sich noch einmal rituell vor aller Augen reinigt um dann ins extrem heiße Wasser zu steigen und seine Zeit in Gesellschaft mit anderen zu verbringen.
Mir ist das viel zu aufwändig.
Ich will die anderen auch nicht mit meinem Geächze belasten.

So zwänge ich mich in die Enge der Sitzwanne. Auch nett hier.

Wenig später laufe ich durch Tsu. Ich habe Hunger. Draußen sind es etwa 38 Grad Celsius und ich bin dankbar für eine zweite japanische Tradition, nämlich dass man alle 50 Meter einen Getränkeautomaten findet. Bei meinem entscheide ich mich für Crystal-Wasser, auf dem Beyonce prangt. Ob die weiß, dass sie hier die Wasser-Queen ist?

Ich laufe den Prachtboulevard entlang, Miami-Beach-Feeling. Wenig Autos auf den Straßen, an sich kommt mir das Zentrum reichlich ausgestorben vor.

Erst, als ich in eine Seitenstraße gehen und in ein Einkaufszentrum stolpere, begegne ich wieder Menschen. Ich schlendere die Ladengeschäfte ab, auch auf der Suche nach einem Postkarten-Shop, finde natürlich keinen, aber dafür ein Kaufhaus mit einer Feinkost-Abteilung, in der ich mir den Korb voller leckerer Dinge packe.

Schwer beladen mit Sushi, Salat, Obst und zwei riesigen Eimern Instant-Nudeln komme ich aus dem Riesenshop heraus, nicht ohne vorher drei Bedienstete passiert zu haben, deren einziger Job es zu sein scheint, sich am Eingang zu postieren um jeden Kunden mit einer tiefen Verbeugung und einem gemeinsam gesungenen "Arrigato gozaimashta!" zu verabschieden.

Direkt hinter dem Konsumtempel stolpere ich auf das Gelände eines Shinto-Tempels. Massiv und ruhig die Holzbauten, die Glocke, der Tempel und einige keinere Schreine. Ruhig ist es, verstummt die schrille Werbemusik, wenn sich die Automatiktüren erst einmal hinter dem Kunden/Gläubigen geschlossen haben.

Ich sehe keine Mönche, wohl aber ein, zwei ältere Menschen, die beten und Räucherwaren azünden.

Eine sonderbare, feierliche Stille liegt über diesem Ort. Geborgen, erhaben. Das gefällt mir. Eine kleine Tempelkatze schlurft wachsam zwischen den versteinerten Löwenfiguren umher. Sie sucht sich wohl ihre Mittagsmaus oder einen Ort zum Schlafen.

Schlafen. Augenblicklich kriecht mir Müdigkeit die Waden empor. Heute passiert nicht mehr viel, nehme ich mir vor. Ich schleiche Tempelkatzengleich nach Hause, speise fürstlich die mitgebrachten Dinge, gönne mir sogar ein Asahi-Bier aus der Dose und mache gegen 20 Uhr den Fernseher aus, nachdem ich versucht hatte, die Nachrichten zu verstehen.

Genüsslich stöhne ich, als ich mich umdrehe, einschlafe und mal keine Krabbe an mein Zelt klopft. Morgen, so denke ich mir noch, morgen steht die härteste Etappe der ganzen Tour an - sagt Google - morgen, so drohe ich mir fast selbst, muss ich die gesamte Kii-Hanto in einem Zug durchqueren.

Und - hossa - selbst auf meinem weich gespülten Google-Ausdruck prangen da eine Menge Berge! Also Einschlafen! Kraft tanken!

Äh, Ruhetag? Trotzdem gefahren: 33,06 km