Mighty, misty Fuji-San.

Tag 2/Etappe 1 - Von Tokyo zum Mount Fuji

Wenn ich könnte, ich wäre schon um fünf aufgestanden. Gut, ich hätte ja auch können, aber um nichts in der Welt will ich das Frühstück verpassen. Rede ich mir ein. Das Frühstück, ja, das ist die Mahlzeit des Tages. Grundstein aller Leistung.

Und Leistung, die muss ich heute bringen. Keine 30 Kilometer gemütliches Cruisen in Tokyo. Nein. Heute steht eine erwachsene Etappe auf dem Plan.

Ich liege halbwach, wälze mich herum, immer wieder drehe ich mich von einer Seite auf die andere. Dann und wann stelle ich die Klimaanlage wärmer, naja, eher "leiser", denn ich bilde mir ein, wegen der Lüftungsgeräusche nicht schlafen zu können.

Dabei ist es die Spannung, die mich nicht schlafen lässt.

Morgen. Heute. Gleich - gehts los. Meine erste Etappe in Japan. Allein. Kein Maki. Kein Ats. Keine Jungs von Cycle Tokyo!, die mich beschützen, mir Ratschläge geben. Die wissen, wo man abbiegen muss.
Gestern sind sie extra noch mit mir 500 Meter um die Blöcke gezogen, um mir zu zeigen, wo ich abzubiegen habe.

"Your stage will be easy," haben sie gesagt, "just turn left - right - left. Onto Route 20."
Links, rechts, links. Ganz einfach, stimmt.
Auf die Route 20. Easy-peasy.

Irgendwann, noch 14 Minuten bis 6 Uhr, mache ich das Licht an. Ich nehme meine Kartenausdrucke, die ich mir zuhause angefertigt habe und beschaue sie. Eigentlich wirklich ganz einfach. Nur auf der 20 bleiben. Nicht ablenken lassen, den Schildern folgen. Easy. Und dann, dann bin ich aus Tokyo raus. Bin in den Bergen. Im Wald. In der Natur.
Und dann, dann irgendwann, der erste Höhepunkt meiner Tour: 3.770 Meter hoch.

Fuji-san. Der heilige Berg.

Und schon huscht ein Lächeln über meine Lippen. Legitimiert durch das Weckersurren, denn nun darf ich offiziell aufstehen. Und irgendwie freue ich mich auf meinen kalten Reis, die heißen Nudeln und den faden grünen Tee - heute, heute geht es los. 1.500 Kilometer finden ihren Anfang. Die Tour startet!

Japanischer Abschied

Nach dem ausgiebigen, aber zugegeben wenig schmackhaften, Frühstück beginne ich damit, meine Sachen aus dem Zimmer vor das Hotel zu bugsieren. Und das ist auch so eine Geburt:

Zuerst die Speedmachine. Hochkannt in den Lift, von dort quer durch die Lobby. Die Rezeptionisten verbeugen sich, ich lächle sie an.
Dann in den nächsten Lift, der uns von Etage 3 auf Ground Level und vor die Hoteltüren bringt.

Ich stelle das Liegerad ab - den Japanern ist ja zu trauen, was das Klauen von Fahrrädern angeht. Trotzdem beeile ich mich. Erster Lift, quer durch die Lobby, Rezeptionisten verbeugen sich, ich lächle wieder, nächster Lift, rein ins Zimmer. Zugegriffen.

Dann kommen meine Packtaschen dran - mit 15 Kilo am Limit dessen, was ich mitnehmen will. Zelt, Schlafsack und Fahrradplane in der einen, Klamotten und Proviant für die Etappe in der anderen Tasche. Unter den Arm klemme ich mir noch die Isomatte, hänge mir den Fotoapparat um und setze mir halb dem Helm auf. Dann wieder - Lift - Lobby - Verbeugen - Lächeln - Lift 2 und schon bin ich unten.

Speedy ist noch da. Sehr gut. Ich stelle die Sachen rund ums Rad, vertraue wieder auf die ausgewiesen niedrige Diebstahlrate in Japan, fahre schnell hoch in die Lobby, um meinen Schlüssel abzugeben.
Die Rezeptionisten nehmen ihn entgegen, präsentieren mir noch die Abschlussrechnung (Was? Ein 5-Minuten-Mama-ich-lebe-noch-Anruf nach Deutschland kostet 10 Euro???) also ob sie mein Diplom in Atomphysik wäre. Dann, na klaro: Verbeugen, Lächeln.

Wieder unten packe ich alles aufs Rad, schon bildet sich eine kleine Traube um uns. Junge, Alte, Mann und Frau bleiben stehen, tuscheln, schauen, grinsen, interessieren sich. Manche gehen weiter. Manche zücken ihr Handy und machen ein Foto. Einer filmt mich.
Alle lächeln.

Ich aber, ich muss los. Etwas peinlich ob der Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird, lasse ich mich in den Sitz meines Rades sinken, klinke den Fuß ein und - hey, es kann losgehen!

Und nun bin ich es, der sich leicht verbeugt. Man muss sich ja beim Publikum bedanken. Im Rückspiegel sehe ich es: Lächeln, Nicken.

The endless City

Ich soll also nicht, wie geplant, die kleine, ruhige Straße, sondern die Route 20 fahren. Cycle Tokyo!-Tipp. Je größer die Straße, desto sicherer ist sie zweisprachig ausgeschildert. Aber zunächst muss ich sie finden. Hier irgendwo in Richtung des Gurkenhauses verläuft sie, hinter Shinjuku Station.

Dabei muss ich lächeln. Irgendwie komisch, dass die Japaner eine so protektionistische Haltung ob ihrer Sprache, ihrer Kultur haben, aber anscheinend keine eigenen Wörter für "Bahnhof" haben - denn die heißen tatsächlich englisch "Station" hier.
Oder "River". Alle Schilder, die ich vorgestern auf der Fahrt hierher vom Taxi aus gesehen habe, benannten die Flüsse in english.

Naja. Konzentriere dich!, denke ich, als ich, ganz links eingeordnet, die ersten Tretbewegungen allein auf japanischem Asphalt mache.
"Left - right - left", hatte Ats mir die Eselsbrücke zum Auffinden der Route 20 eingehämmert.

Zunächst bin ich allein auf der Straße. Hinter mir surrt ein kleines Reinigungsauto, das dafür umso mehr Rundumleuchten hat und in meinem Rückspiegel aussieht, als lande ein Ufo in Shinjuku. (Und wenn, so denke ich mir, landen die Aliens sowieso hier. Passt also.)

Dann biege ich rechts ab. Und stecke in feinster Morning Rush Hour fest. Taxis, Trucks und Vans, das alte Spiel. Rechtsabbiegen bei Linksverkehr ist ja wie Linksabbiegen bei Rechtsverkehr - also etwas für freche Jungs mit starken Nerven. Ats gab mir den Rat, mir zu nehmen, was ich brauche - dabei aber höflich zu bleiben.
Also beginne ich, mich durch die stehenden, oder zumindest zäh fließenden Blechkarossen zu schlängeln, und dabei zu lächeln und zu nicken.
Es klappt.
Mehr noch, einige setzen sogar etwas zurück, als sie mich sehen. Dann verbeugen sie sich kurz.
Ich kann es kaum fassen - in Deutschland hätte ich jetzt schon Ohrklingeln vom Hupkonzert der Radwegnazis.

Endlich ganz links angekommen, kann ich mich - natürlich wesentlich schneller als der übrige Verkehr - durchschlängeln. Was weniger Spaß macht als angenommen, denn mit mir scharren knarzend ein Dutzend Roller an der Blechschlange vorbei - in deren blauen Dunst ich mit meiner Nase hänge. Ekelhaft.
Ich werde mich hieran zu gewöhnen haben.

Nach 500 Metern wieder rechts. Und da steht es über mir, das Schild: "Route 20. Kofu 171 km. Otsuki 100 km." Und Otsuki ist es, wo ich hin will, denn dort muss ich nur links abbiegen und würde genau auf den Fuji zurollen.
Das zur Theorie.

Zunächst einmal muss ich Tokyo verlassen. Und trete rein. Denn bald schon hat sich der Berufsverkehr verabschiedet und ich - da stadtauswärts unterwegs - habe eine relativ freie Strecke. Na, zumindest rollt der Verkehr jetzt.
Es ist 9 Uhr.

26, 27, 28 km/h. Autos überholen mich. Roller, LKW. Alle fahren schön in weitem Bogen um mich herum. Es klappt wunderbar. An der nächsten roten Ampel habe ich wieder alle eingeholt. Dann stehen wir da, beschauen uns, nicken und lächeln - Grün - und schon geht es wieder los.

26, 27, 30 km/h. Ich rolle mit meiner Speedmachine wirklich gut. Ich trete rein, haue nicht zu viel Energie raus, gewöhne mich langsam wieder an das Fahren mit so viel Gepäck und bald schon steuert sich mein schwer beladenes Liegerad wieder wie in Trance.

Rote Ampel. Abbremsen. Halten. Nicken, Lächeln.
Grün. Und los gehts wieder.
Ich fliege auf der 20, über mir, in etwa 10 Meter Höhe, der Betonkoloss der Autobahn, Chuo Expessway, der ist für mich verboten. Aber ich muss an den Ampel aufpassen, dass ich nicht aus Versehen abbiege, denn die Auffahrten zum "Expwy", wie er hier abgekürzt wird, sind so gebaut, dass man früher oder später immer auf ihm landet.
Ah, Rot. Abbremsen, Füße ausklinken. Stehen, Nicken. Lächeln.

10:30 Uhr. Grün. Wieder antreten. Ich beschleunige. Langsam knirscht es in den Knien. Ich muss mehr trinken. Setze die Flasche an - mmh, lecker faden grünen Tee, und spüle meinen Mund aus. Ekelhaft, dieser Geschmack von Feinstaub und Rollerabgas.

30 km/h, es rollt wieder. Mittlerweile ist es warm geworden, meine Güte ist das warm! Mitbekommen tue ich davon nicht viel, da der Expeewee, wie ich ihn jetzt taufe, ein toller Schattenspender ist.
Schweißperlen stehen auf meinen Unterarmen.
Rot. Anhalten. Lächeln. Nicken.

Hinter mir brummt es. Kommt näher. Schwillt an. Wird zum Röhren. Meine Güte! Ist das Godzilla? Während der Brunft?
Mich überholen bei erneuter Grünphase 5 Motorräder. Aber was für welche! Lackiert in den grellsten Tönen, die die RAL-Farbtabelle hergibt (und die, so vermute ich, von der UNO und der Weltvereinigung der Augenärzte auf der schwarzen Liste stehen) und versehen mit extralangen Hinterradschwingen, sehen diese Monster eher aus wie aus dem Supermanga AKIRA, denn von diesem Planeten.
Einer der Piloten - es ist mal wieder Rot und wir stehen nebeneinander - schaut mich an.
Ich nicke, lächle. Wie immer.
Er hebt seinen Unterarm und macht den Daumen nach oben. Ah, mal was anderes.
Dann wird Grün, und ehe ich mir die nur in T-Shirt und Hotpants gehüllte Sozius-Mieze seines Hintermannes genauer besehen kann, fauchen die Motorräder from the Future auch schon los.

Erst nach 10 weiteren Ampeln sind sie außer Sichtweite.
Noch 5 Ampeln mehr und ich kann sie nicht mehr hören.

Es ist 12 Uhr, als ich mal wieder eine Rotphase durchmache und sich mein Magen knurrend bemerkbar macht. Hallo? 12 Uhr? Ich bin denn wirklich schon 3 Stunden unterwegs?
Ich betrachte meinen Bike-Computer.
45 km Tagesleistung steht da.
Es wird grün, aber ich komme aus dem Staunen nicht heraus. 3 Stunden, 45 Kilometer, wahrscheinlich schon 112 Ampeln mitgenommen: WANN HÖRT DIESE STADT AUF???

Kofu ist NICHT gleich Chofu?

"Sometimes Routes will disappear.", hatte Maki gesagt. "And then reappear."
"Same with Cities, marked on the signs.", hatte Ats hinterhergeschoben.
Ich werde ihr wissendes Grinsen nie vergessen.

Ich orientiere mich an "Route 20" und dem Hinweis auf Otsuki und Kofu. Und irgendwann, bei Ampel 200 oder so, passiert es dann. "Route 20" steht nicht mehr da. Dafür Hinweise, dass es nach links in Richtung Yokohama gehe - wo ich nicht hin will - und nach rechts nach Chofu.

Mmh. Chofu, Kofu, Mofu, Klofu - klingt alles gleich. Ich fahre nach rechts. Nicht lange labern, komm, reingetreten, es bleibt nicht ewig grün.

Und merke nach einigen Kilometern, dass Chofu wohl doch nicht Kofu ist. Ein Blick in die Karte - umständlich, da ich anhalten und herumkramen muss - bestätigt dies.

Ha, na klar, ich hätte, um nach Kofu zu kommen, nicht nach Chofu, sondern nach Fuchu fahren müssen! Na, das liegt ja wohl auf der Hand!

Ich drehe durch, ich drehe durch, ich drehe hier noch durch!!!, kommt eine kleine freche Stimme hinter meiner Stirn hervor. Ich falte die Karte und drehe um, zurück zur Chofu-Kreuzung. Wo ich schauen muss, nach Fuchu zu kommen.

Ich muss mehr im Schatten fahren, nehme ich mir vor ...

Endlich: Grün!

Irgendwann, so um die 50 Kilometer stehen auf meinem Tacho, irgendwann blicke ich nach rechts. Und da sehe ich es: Das erste Grün, das nicht von einer Ampel über mir herab scheint. Ich sehe das erste Blau, das nicht von einer freakigen Metallic-Lackierung neben mir reflektiert.

Ich stehe auf einer Brücke. Muss anhalten. Muss diesen Augenblick festhalten. War es das mit Tokyo jetzt? Ist die Ampel-Orgie zu Ende? Sehe ich jetzt auch mal einen Baum? Oder gar, einen Wald?

Ich kann es gar nicht fassen, so sehr freue ich mich: Kein Beton hier! Ein Fluss, nur träge dahin plätschernd, aber hey, was solls - besser als 200 Meter hohe, graue Erdbebenbauten! Ich mache Fotos, wie ein Kind, freue mich und trinke einen Schluck: Schluss mit dem Abgas-Atmen! Schluss mit dem Anfahren, Anhalten, Anfahren, Anhalten.

Jetzt gehts ins Grüne. Nehme ich mir vor. Bin ich ganz sicher. Jetzt wirds naturell, jetzt kommen Teeplantagen, duftende Wälder, grasende Springböcke, tolle Radwege, sprudelnde Quellen und grüßende Radler.

Ja, ich sollte wirklich mehr im Schatten fahren ...!

Aber ich bin guter Dinge. Jetzt, nachdem ich diesen krassen, vierstündigen Stadtmarathon mit wahrscheinlich rabenschwarzer Lunge und einer Jahresbilanz Feinstaub beendet habe: Jetzt beginnt meine Radtour! Jetzt geht sie los - 50 Kilometer hat es gebraucht, um Tokyo, diesen Riesenmoloch, Stadt-Godzilla und Ampelmonster, das sich da breit gemacht hat, im Tal des Edo-Rivers, das bis an die Berge heranschwappt, wie ein wild wucherndes Betongeschwür, zu verlassen ... Moment mal. Mooooment mal!

Berge?

Verkehrsstau zu den Love-Hotels

Bevor ich meine erste Bekantschaft mit den japanischen Bergen, genauer gesagt mit den japanischen Bergstraßen mache, erlebe ich, wie ein Samenstau leicht zum Verkehrsstau werden kann.

Und das geht so: Folgt man der Route 20, so wie ich es tue, kommt man ziemlich genau beim Mount Takao heraus, nach dem dann auch die letzte Teilstadt von Tokyo-Metropolitan Area benannt ist, nämlich Takao City.

Der Mount Takao ist - das muss ich zugegebenermaßen erwähnen - nicht nur für gestresste, hormongeplagte Japaner interessant, sondern auch für Wanderer und Naturfreunde, die das Ihre zu dem nun folgenden Trauerspiel beitragen.

Denn die Route 20 wird, gerade, als die Straße anzieht und sich anschickt, zu einer schnieken Steigung zu mausern, zu einer Luststraße. Sogenannte "Love Hotels" - wir würden Stundenhotel dazu sagen - säumen den Weg. Illustre Namen wie "Cherry Inn" oder "The Love Castle" versprechen Mußestunden der besonderen Art. Denn wie ich erkennen - aber nicht fotografieren kann - sind dies nicht nur ordinäre Stundenhotels, wo sich der Gast mit seiner ... nennen wir es "Auserwählten" ... zum Schäferstündchen einmieten kann, nein, es sind dazu noch wahre Themenparks.

So komme ich an einem dieser Hotels vorbei, das aussieht, als habe ein Dr. Frankenstein-Architekt sämtliche Baustile und Epochen in einem grotesk bunt angemalten Beton-Super-Klon zum Leben erweckt: Das Erdgeschoss ist ein Eisenbahnwaggon, darüber, links, mit Türmchen, eine mitellalterliche Burg, rechts daneben ein futuristisches Bürogebäude mit verspiegelter Glasfassade, darüber thront ein rosa-rundes Wolkenkuckucksheim und darüber, als Sahnehäubchen, ein güldener Turm, den sie wohl in Potsdams Sanssouci abgekupfert haben.

Und von diesen Love-Hotels komme ich hier mindestens an einem Dutzend vorbei.

Also, vom "Na, Fräulein, Sie haben also Ihre Fahrkarte vergessen? Und wie bezahlen Sie jetzt die laaaaange Fahrt?"-Spielchen über brutale Fessel-Orgien, Sekretärinnenfantasien, Dornröschen-Poppen bis hin zum Auskosten intimster Rubensgelüste bietet dieses Etablissement also alles, was man sich vorstellen kann.

Was auch den irrsinnigen Verkehrsstau erklärt, inmitten dessen ich nun schwitzend wie ein Affe versuche, mich die immer steiler werdende Straße hinaufzuschrauben. Was nicht gerade einfach ist, denn der sonst so komfortabel, fast 50 cm breite Seitenstreifen fehlt nun völlig - dafür aber geht es direkt neben dem weißen Fahrbahnstrich in eine etwa 50 cm tiefe, scharfe Abflussrinne.
Fehler darf ich jetzt keine machen.

Und da hier die Autos wirklich Stoßstange an Stoßstange fahren, sei mir meine fototechnische Untätigkeit an dieser Stelle verziehen - es ging wirklich nicht.

Irgendwann reißt der Strom der Blechkarossen ab. Ich sehe rechts von mir nur einen riesigen Parkplatz, einen Shinto-Schrein und vierzigtausend Autos. Dann bin ich allein. Nur noch alle paar Minuten kommt ein Auto an mir vorbei. Ich kann durchatmen.
Muss ich auch.

Vor mir türmt sich die Mount Takao Passstraße auf.


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Der erste echte Berg. Und was für einer! Schnell schon bin ich am kleinsten Blatt Gang des großen Blattes angelangt. Da überholt mich ein Bergfloh auf einem Rennrad. Sichtlich angeschlagen, das sehe ich, auch bei ihm läuft der Schweiß in Strömen, schwer atmet er, Mund weit offen, Tropfen an Nase und Mund. Die Adern an seinen Unterarmen treten hervor wie kunstvoller Stuck.
Er schaut mich nur an. Kein Augenzwinkern, kein Gruß, nichts. Der Mann ist an der Grenze. Und doch, er überholt mich, langsam, aber stetig. Nach einer Minute ist er hinter der Kurve, die da keine 200 Meter vor - aber 20 Meter über - mir im Wald verschwindet.

Ich trete rein. Immerhin schleppe ich hier 15 Kilo Gepäck, an die 3 Liter grünen Tee und 65 Kilo Lebendgewicht die Serpentinen hoch. Ich strampele, schwitze, es brennt in den Schenkeln. Hinter mir, im Rückspiegel, die nächsten Rennradler. Drei, nein vier, zwei von ihnen tragen ähnliche Kleidung. Scheinbar trainiert hier ein Team.
Einer grüßt im Vorbeifahren - er legt sein Kinn an die Brust, eine Art Verbeugung, der Helm schnellt hinten nach oben. Ein Wunder, dass ihm nicht schwindelig wird!

Nach einer Minute sind auch diese vier vorbei. Ich bin wieder allein. Außer ab und zu ein Truck, der schwarz rußend die Serpentine hinaufröhrt. Irgendwann fahre ich links ran, ich bin ja sonst nicht so, steige ab und pinkle direkt neben meinem Rad, direkt neben der Fahrbahn in den Wald. Mir ist alles egal - es ist heiß, verdammt heiß! Ich kann nicht mehr! Was für ein Scheißberg!

Wer hätte das geahnt? Vom nie endenden Stadtsmog direkt in eine senkrechte Wand?

Irgendwann, wir kennen das ja, irgendwann geht das Hirn aus. Irgendwann übernimmt etwas anderes die Kontrolle. Man selbst geht weg, zieht sich zurück, verlässt seinen Körper und schwebt irgendwo hin. Irgendwo, wo einen die Gedanken gerade hintragen. Bei mir, in diesem Moment ... ist es Hamburg. Witzigerweise. Hamburg, wo gerade der Herbst anfängt und das ich nicht erwarten konnte, zu verlassen. Hamburg also, die Landungsbrücken. Die Seeluft. Die Schiffe. Meine Freunde. Da bin ich gerade. Nicht hier. Wo der Asphalt dampft, wo meine Schläfen pochen und mein Blut kocht. Wo sich die Straße vor mir auftürmt, wo ich durch eine grüne Hölle kurbele, 6, 7 km/h, gerade mal so. Auf dem letzten Zahn.
Nein klar, dass ich da jetzt lieber an der kühlen Elbe bin.

Aber es hilft. Autogene Flucht. Sie bringt mich den Berg hinauf. Mount Takao, irgendwann bin ich über seine Scheide hinweg. Irgendwann, hinter einer Kurve, ich hatte es ja schon aufgegeben zu hoffen, geht es abwärts. Zunächst kaum spürbar. Ich muss nur vom ersten in den zweiten Gang schalten. Und dann, dann stehen auf ein mal Schilder da. Warnen vor 9 Prozent Gefälle.

Gefälle? Gefällt mir!

Und ab geht es. Ich lasse rollen. Okay, hochschalten, doch noch beschleunigen - wenn schon, dann will ich hier auch richtig Wind um die Ohren haben. Mit 45, 50 km/h geht es bergab. Mehr traue ich mich nicht - die Japaner haben dicke gelbe Lackstreifen quer über die Fahrbahn vor jeder Kurve gemalt. Das schüttelt das Rad jedes mal dermaßen durch, dass das nicht gerade gut für meine Schläfen ist.

Und ehe ich es mich versehe, bin ich in einem Dorf.

Recumbento!

Ich ziele ins Dorf, komme die Straße hinab. Ein Hund und ein alter Mann drehen sich nach mir um. Da sehe ich in weiter Ferne das Schild, das mir hier in Japan noch so viel Freude bereiten wird - eine weiße Milchkanne auf blauem Grund: "Lawson Station".

Oder wie die Japaner es nennen - ein Conbini-Store. Hier gibt es alles, was man so braucht: Warmes und kaltes Essen, Getränke, Eis, Toilettenartikel, Zeitschriften, Pornos, Süßigkeiten. Alles. Im Prinzip eine größere Tanke (ohne Tankmöglichkeit) oder ein Mini-Supermarkt.

Ich halte an. Und treffe meine japanischen Bergflöhe wieder. Sie nicken. Ihre Räder - schicke europäische Carbonflitzer - lehnen an der Mauer, sie selbst hocken auf den Randsteinen, trinken, essen ein Eis oder einen dieser fluffigen "echt europäischen" Backwaren, die man hier kaufen kann.
Sichtlich interessiert beobachten sie, wie ich mein Liegerad parke, mir den Helm ausziehe, ihnen zunicke und im Laden verschwinde. Auch ich habe Hunger. Und nach dem 4 Stunden erhitzten grünen Tee brauche ich jetzt auch mal was richtig Kaltes.

Wieder draußen - nicht ohne von allen Seiten mit "Arrigato gozaimashta!" und tiefen Verbeugungen vom Personal verabschiedet worden zu sein - lächelt mir einer zu, ruft "Recumbento, hä?" und macht den Daumen nach oben. Noch ehe ich ein Foto machen kann, sind die Jungs verschwunden - wieder zurück nach Tokyo, die wohlverdiente Abfahrt vom Mount Takao, die sie sich gerade hinauf gequält haben, auskostend.

Ich breche ein paar Minuten später auf - in die andere Richtung. Ein ganz anderes Kaliber von Mount, nämlich der heilige Mount Fuji steht heute auf meiner Liste.

Vorher freue ich mich noch über ein Guns´n´Roses-Plakat am Ladenfenster: "Think the Water, Feel the Music."

Selbst mir als Werbetexter wäre sowas Geiles nie eingefallen.

Bei drückender Hitze und einer extremen Luftfeuchte komme ich nun sehr schnell voran. Was daran liegt, dass mir der lange Rücken des Mount Takao noch lange Kilometer Abfahrt beschert. Ab und zu kommen mir noch Rennradler entgegen - und jedes Mal ist es kein Nicken, das sie zum Gruße absolvieren, es ist diese Schwindel erregende, abrupte Verbeugung.

Ich lege, militärisch korrekt, meine Hand an den Helm und grüße so. Irgendwie finde ich, das ist die perfekte Ergänzung.

Schön grün ist es. Und ich merke, dass es duftet. Ja Wahnsinn, denke ich! Keine Blumen weit und breit, und doch duftet es so stark, dass ich fast das Gefühl habe, hier sei ein Vierzigtonner mit Lenor-Weichspüler verunglückt. Es riecht so stark nach Blumen, als habe man mir das halbe Angebot von Fleurop direkt in die Nase gestopft. Herrlich!

So lässt es sich radeln. Und vergessen, dass der Verkehr wieder zugenommen hat.

Der Grund hierfür ist auch schnell gefunden: Über mir schießt der Expeewee aus einem der Berge und seine Auf- und in diesem Falle eher die Abfahrten spucken eine Blechlawine nach der anderen aus, ist die Ampel erst einmal auf Grün.

Und so teile ich mir die schönen Schlangenstraßen, die sich nun eng in einem Tal oberhalb eines kleinen Flüsschens entlanghangeln, mit der schon altbekannten LKW- und Van-Kolonne. Und gegen diese Abgasmassen kommt dann auch der Lenor-Blumenduft nicht mehr an.

Tropenherbst

Es lässt sich gut fahren. Muss ich zugeben. Denn so sehr auch der mehr als dichte Verkehr nerven mag - es ist wirklich jedes zweite Fahrzzeug ein schwerer Truck! - die Japaner fahren so, wie sie sich auch Angesicht zu Angesicht behandeln: Höflich.

Es ist Wahnsinn, denke ich, wenn ich mir vorstelle, dass hier zig Autofahrer langsamer fahren müssen, weil ein einsamer, schwer beladener Radler auf der dann doch nicht so breiten Straße nicht einfach so überholt werden kann. Keiner hupt. Keiner drängelt.
Sogar der Gegenverkehr erkennt mich und fährt links, sodass man mich besser überholen kann.

Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viele verschiedene Hupen-Arten ich jetzt schon in Deutschland gehört hätte ... bis zum Hörsturz wahrscheinlich.

Die Natur gefällt mir. Weit hinten verschwimmt alles ins Blaue, vor mir, im Hitzeflimmern, wippen müde Nadelbäume in mildem Wind, der durchs tiefe Tal zieht.

Eisenbahnplatte.

Es ist brüllend heiß. Ich besehe mich bei einer meiner Foto-Trink-Stopps im Spiegel, mein Gesicht ist geschwollen, Tropfen stehen auf verschmierter Sonnencreme und meine Haut ist rot. Das Unterhemd, das ich unter meinem Trikot trage, ist voll gesogen.
Bullenhitze.
Affenhitze.
Affe.

Mein Helm hat Abdrücke hinterlassen, meine Handschuhe - triefend nass vom Schweiß - riechen, als habe sie abwechselnd jeder Spieler einer Altherren-Fußballmannschaft beim Training getragen. Ich sehe richtig Scheiße aus!

Aber hey, dafür sind wir ja hier - mache ich mir mut. Steige aufs Rad, schiebe an, fahre los und hoffe, dass ich schon bald wieder in meine Fahrradtrance fallen möge.

Alter, ist das heiß!

Ich hangle mich weiter, kämpfe mich einige kleine, aber knackige Rampen hinauf, spule in Schrittgeschwindigkeit durch den einen oder anderen Schneetunnel - immer entlang dieses kleinen Flusses, den die pragmatischen Japaner wohl "Route 20-River" getauft haben.

Es scheint, dass es immer dichter, immer grüner, immer tropenartiger wird, mit jedem Kilometer, den ich mich von Tokyo entferne. Dabei bin ich noch keine 20 Kilometer Luftlinie vom letzten Haus der Metropolitan Area entfernt, kalkuliere ich. Wären die Berge nicht hier, könnte ich ihn sicher noch sehen, den Hauptstadtmoloch Japans.

Die Hitze macht mich fertig. Ist das also Herbst in den Tropen? Liegt Japan überhaupt in den Tropen? Keine Ahnung, etwas südlicher als deutsche Breiten sind wir hier schon, versuche ich mich an Geographie neunte Klasse zu erinnern - aber dass es so heiß ist, hätte ich nicht erwartet.

An einem Family Mart - einer der großen Conbini-Ketten - prangt ein großes digitales Thermomenter. 34,7 Grad steht da. Im Schatten.
Herbst in Japan.

Na, ein Glück, dass ich mir extra noch einen neuen Schlafsack gekauft habe, der bis Minus 25 Grad geht!

Fuji-san ziert sich

Irgendwann ist es dann so weit. Ich fasse es selber kaum. Die Geradeausfahrt, die vor Stunden in Tokyo Shinjuku begonnen hatte, endet. Ich biege ab. Das erste mal auf meiner Tour. Nach 112 Kilometern. Es ist eine Linkskurve. Auf die Route 139.

Es geht weiter durch tiefe Täler, an bewaldeten Hügeln, spitzen Bergen vorbei. Durch Dörfer, Bauernhöfe, Reisfelder und - na klar, darauf ist Verlass - alle 10 Kilometer an einem Conbini-Store.

Die Fahrt auf der 139 führt mich nach Fujiyoshida City. Da steckt schon "Fuji" drin, also muss der Berg, den ich so gern sehen will und an dessen Fuß ich heute nach schlafen werde, nicht mehr weit sein!

Kurz vor der Stadt muss ich rechts abbiegen - die letzte Kurve heute - und eigentlich nur noch geradeaus fahren. Mein Zeltplatz ist die Earth Embassy mit dem angeschlossenen Solar Café, eine organische Farm, die auch Schlafmöglichkeiten anbieten.

Ich erreiche das Haus, das tatsächlich (leider) genau an der stark befahrenen Straße liegt, nach einem harten Regenguss, den ich unter dem Dach einer Autowerkstadt aussitze und einer Pinkelpause beim Mount Fuji Besucherzentrum.

Dort spricht mich ein älterer japanischer Herr an.
Ich probiere meinen japanischen Satz aus: "Sumimasen, watashi wa hotondo nihongo o hanse masen!" - Sorry, ich spreche kein Japanisch. "English?", biete ich fragend an.
Er lächelt, "English!" wiederholt er.

Will wissen, woher ich komme. Da bringe ich doch gleich meinen zweiten (und letzten) japanischen Satz an: "Watashi wa Doitsu-Jin des." - Ich bin Deutscher.

"Doitsu?", ruft er da. Und winkt.
Hinter mir steht auf einmal ein Riese. Blond. Lächelt.
"Hallo, ich bin Jonathan aus München."
Ah, da sind sie, die Deutschen.

Wir schnacken eine Runde, bevor ich mir noch ein paar Postkarten kaufe und enttäuscht in eine Wand aus weißen Dampf blicke - Mount Fuji, der Mächtige, er ziert sich. Versteckt sich im Nebel.

"Das ist normal. Nur ganz ganz ganz selten ist er klar zu sehen.", sagt Jonathan.
Aha. Musste ja so kommen.

Und so erreiche ich das Solar Café um fast 18 Uhr. Es dämmert schon. Ich werde so herzlich begrüßt, dass es mir fast peinlich ist.


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Schon weisen sie mir meinen Platz zu - hinter dem Haus, unter Bäumen.
"It´s going to be chilly here, so please, make sure you have warm clothing!", rät mir eine der tollen jungen Damen, die den Laden schmeißen. Na klaro, versichere ich ihr, und denke dabei an meinen Arktis-Schlafsack.

Wo ich duschen könne, frage ich sie.
"We have no sustainable Showers yet. But I can give you a bowl for washing.", sagt sie. Aha, waschen, na okay. "And here ...", sie deutet auf zwei riesige Fässer, "... is our rain-water. You may take some for washing."
Ah, oh - kaltes Wasser also?

Ja, kaltes Wasser also. Mmh, ja, okay. Mein Vati ist Jagdflieger. Mir macht kaltes Wasser nichts. Lüge ich mir was vor.

Ich baue mein Zelt auf, ziehe mich aus - mittlerweile ist es stockdunkel - und wasche mir den Schweiß und den Dieselruß von 125 Kilometern ab. Hoffe ich - sehen kann ich ja nix mehr. Kaltes Wasser - es stört mich nicht einmal.

Drinnen brutzeln sie mir etwas Heißes.

Es gibt ein tolles Curry. Vegetarisch natürlich. Und "organic". Alles selbst angebaut.

Es schmeckt herrlich. Leider zu wenig für einen Radler, aber traue mich nicht, sie nach mehr zu fragen - irgendwie scheint dieses organische Wirtschaften nicht für gerade volle Vorratskammern zu sorgen. Morgen würde ich einfach eine Lawson Station plündern.

Mir gegenüber sitzt Rob Lee, ein Japaner aus Hiroshima, der hier organische Agrikultur lernen will, um sie auf dem Land seines Vaters auszuprobieren. Wir schnacken - er war gleich begeistert von meinem Liegerad - und er gibt mir, als ich ihm sage, dass meine Tour in Hiroshima enden wird, seine Nummer. Ich solle ihn unbedingt anrufen.

Zwei U.S.-Amerikaner kommen dazu. Sie sind nett. Aber als sie mich fragen, ob ich Lady Gaga mag, entschuldige ich mich. Da schreibe ich doch lieber Tagebuch. Wieder in meinem beschaue ich mir das heute Geschaffte. Nicht übel für eine erste Etappe - knapp 1.500 Höhenmeter. Bei 40 Grad in der Sonne. Nicht schlecht.

Eine harte erste Etappe steckt mir da in den Knochen, aber ich bin froh und erleichtert, angekommen zu sein. Es klappt ganz gut, dieses Rate-Navigieren. Alles, was ich brauche, sind meine Google-Maps-Ausdrucke, meine Japan-Karte 1:1,2 Mio von world mapping project und der japanische Campingführer. So geht das.

Zwar kann ich im Campingführer nichts, aber auch gar nichts lesen, aber die Pictogramme und die - dürftigen aber immer immerhin - kleinen Kärtchen werden mich schon zu meinen neuen Zielen führen.

Und so geht die Sonne schneller unter, als ich Watashi wa sagen kann, ich kuschle mich in meinen Schlafsack, dicke Tropfen pladdern aufs Zelt - hoffentlich hört es morgen auf! - und die Trucks dröhnen noch immer unablässig über die nicht weit entfernte Straße.

Etwas sauer bin ich auf Fuji-san, den heiligen, zickigen Berg. Aber er soll morgen seine zweite Chance bekommen. Na, wenigstens konnte ich meinen Lieben dahei was vorgaukeln - auf den Postkarten sieht der Berg beeindruckend aus ...

Die Beine brennen, das Blut kühlt sich nur langsam ab. So schlafe ich ein. Regentropfen machen den Beat zu meinem Traum. Die Trucks sind die Bassline. Das kochende Blut meiner Venen ist die zarte Stimme des Interpreten ...

Ich schlafe.
Schlafe.
Und schwitze ...

Gefahren: 125,78 km in 6:20 Stunden bei 19,8 km/h Durchschnitt. Und so fertig war ich lange nicht mehr!