Hiroshima

Tag 13 - Lichtblicke

Mein Rücken schmerzt. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Egal, wohin ich mich versuche zu drehen, sofort schnellen mir nur eine Minute nachdem ich mir einrede, es sei nun aber halbwegs bequem, heiße Schmerzstiche die Spinalis empor. Kein Wunder, die Bank, auf der ich hier versuche zu campieren, ist etwa 80 cm zu kurz und gute 30 cm zu schmal, als dass ich auf ihr liegen könnte.

Womit gestern endete, geht heute nahtlos weiter - die Parkbank, auf der ich übernachten muss, auf dem Parkplatz vor dem Fährterminal in Matsuyama. Die Bank des Schreckens.

Ich schaue auf die Uhr - 4 Uhr morgens. Es ist noch dunkel. Heiß ist es allemal.
Ein wenig setzt sich Tau auf meinem Gesicht ab, es ist heißer Tau, nichts Kaltes, Erfrischendes.

Ich fühle mich Elend. Im Schlafsack mag es an die 45 Grad haben, draußen sind es allein meine Wangen, die für etwas Kühlung sorgen. Habe ich geschlafen? Muss ja, denn ich habe keine Erinnerung an 2 Uhr, an 3 Uhr. Weggedämmert, hinübergedriftet.
Eingeschlafen, tatsächlich, für eine Stunde. Unglaublich, was ein Mensch alles aushält.

Mein Gemütszustand ist auch etwas ruhiger. Die Panik, dass meine Visa aufgrund meines Girokontos überzogen sein könnte, sie ist immer noch da, ja, sie lungert wie ein schwerer Stein in meinem Magen herum, macht sich breit wie ein Tumor, streut hässliche Metastasen der Panik in mir, aber ich versuche in diesen Momenten das Schlechte herunterzuschlucken und an etwas schönes zu denken: Ich lausche dem Meeresrauschen, wie das Wasser nicht weit von mir gegen die Hafenkante dümpelt, höre dem Flüstern des Windes zu, der über mir in das Laub der Bäume greift und denke an liebe Menschen, wie die Mauz daheim, an ihr Gesicht, wie sie mich anlächelt, immer bereit, mir bei irgend einem Blödsinn zu folgen.
In diesen Momenten komme ich runter. Kann durchatmen.
Und ein wenig genießen. Das hier und jetzt. Meinen Urlaub.
Wenig später meldet sich meist meine Wirbelsäule und ich bin wieder da, in der Realität, die hier heute gegen 4 Uhr ziemlich niederschmetternd ist.

Es wird 5 Uhr, als die ersten Taxen vorfahren, langsam Autos die dunkle Straßen anfangen zu benutzen und auch erste Angestellte der Schiffsgesellschaften mit versteinerter Miene einen verstohlenen Blick auf mich Radnomaden werfen, wenn sie zu ihren Arbeitsplätzen gehen.

Ich bleibe noch bis 5:20 Uhr liegen - demonstrativ in meinem Sack. Sollen sie doch sehen, dass ich hier übernachtet habe. Na und? Ihr hättet mich ja auch im Terminal schlafen lassen können - ich erinnere mich an das Gespräch mit dem Polizisten. Und an das Buch "Tour de Nippon", wo Josie Dew eine ähnliche Szene beschreibt. Sie habe man damals im Terminal schlafen lassen. Sicher, warm, eingeschlossen. Auf langen großen Bänken.
Mich habe sie rausgeschmissen.

Und ich erinnere mich an den netten Hafenarbeiter, der mich gestern mit zum Kai genommen hatte, den Kapitän aus dem Steuerstand des Katamarans gewunken und ihn gefragt hat, ob er mich nicht ausnahmsweise mitnehmen würde: Voller Hoffnung hatte ich dagestanden. But no chance. Japaner machen Dienst nach Vorschrift. Sie alle.

Also nun doch hier. Aufstehen.
Ich rolle den Sack zusammen. Fühle mich elend. Nicht geduscht, nicht einmal waschen konnte ich mich. Ich gehe kurz rein auf die Toilette, putze mir die Zähne und schiebe das Fahrrad in das Terminal: Tickets kann man hier erst halb Sieben kaufen.

Wenig später, ich sitze gerade einmal 5 Minuten rückenschonend in einem der gepolsterten Sessel, kommt ein Polizist. Das Rad muss raus. Geht das schon wieder los?
Ach F***, leckt mich doch. Ich schiebe es missmutig raus, er lächelt und bedankt sich, verbeugt sich kurz und redet - wirklich nett - auf mich ein, ich aber habe nur versteinerte Miene und Verachtung für ihn. Sieht der denn nicht, dass es mir nicht besonders gut geht?
Na, woher auch: So etwas wie Mimik kennt der Japaner nicht. Gefühle haben in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.

Es ist 7 Uhr, als ich mein Ticket habe und an der Fähre stehe. Warum auch immer, ich merke wenigstens noch rechtzeitig, dass es mein Ticket nicht im schicken, hypermodernen Fährterminal zu kaufen gibt, sondern in einem Bretterkabuff neben dem Glaspalast. Aha, das verstehe mal einer ...

Sie winken mich an Bord. Männer in Weiß, Fährarbeiter. Sie rufen "Sugoi", recken ihre Daumen nach oben. Und das baut mich auf - ich kann kurz den Pleitegeier, der über mir kreist, mich runterzieht, abschütteln und wieder der Speedmaschinist sein.

Fahrt ins Glück

2,5 Stunden wird sie dauern, die Fahrt nach Hiroshima. Ich suche mir einen plüschigen Platz ganz vorn auf dem Sitzdeck. Die Sonne geht brachial golden neben mir auf, strahlt, wärmt. Ich knacke sofort weg, auch wenn direkt über mir ein Flatscreen nervige Nachrichten und Werbespots in das Schiff plärrt.

Sanft schaukeln wir auf der japanischen Inlandsee, als wir ablegen, der Diesel leise dröhnt, und ich, ich kann endlich einmal wirklich beruhigt einschlafen. Eine Wohltat - aaah, ein Genuss!

So liege ich in meinem roten Sessel, lasse die Beine ausgestreckt und döse hinüber. Sanft wiegt das Wasser mein Schiff, Traumfetzen überrollen mich, mal heftig, mal weniger intensiv schlafe ich ein, kurz nur, zwar, aber dafür umso einprägender. Umso erholender.

Und dann sehe ich sie, die Sonne. Wie sie über mir steht und glänzt. Mich anscheint, mir sagen will: Mache dir keine Sorgen, alles wird gut! Dann lächelt sie, erhaben, majestätisch, unser Zentralgestirn - nichts und niemand kann ihr etwas. Und wenn jemand etwas genau weiß, dann ist sie es, die Mutter Sonne.

Glück steigt in mir auf, die Sicherheit, die vor wenigen Stunden noch im Staub unter der Parkbank des Matsuyama-Kanko-Port-Parkplatzes gelegen hatte, sie kehrt zurück. Und obwohl ich noch immer nicht genau weiß, was ich machen soll, wenn meine Visa nun wirklich nicht mehr funktioniert - eines, das hat mir die klare Morgensonne über Japans Küste doch eindringlich beigebracht: Es ist noch lange nicht Schluss!

Am Horizont schält sich eine Skyline aus dem Morgendunst. Wir fahren durch eine Meerenge und kommen zunächst an Kure vorbei, der berühmtesten Werften-Stadt Japans. Hier wurde schon die legendäre "Yamato" gebaut, die Kaiser haben hier seit Jahrhunderten ihre Schiffe bestellt.

Wir passieren, wie auf Bestellung, zwei nagelneu aussehende Marineschiffe, ein Katamaran, einer von der Bauart, die mich gestern Abend nicht mitnehmen wollten, gibt tiefes Signal, als er uns überholt und ich dämmere wieder kurz weg, als neben mir die schroffe, überaus bergige Küste behäbig vorbei zieht.

Aber dann, keine 10 Minuten später, sehe ich sie: Die Skyline von Hiroshima.

Ich dämmere gerade wieder weg, nehme die Häuser nur schemenhaft wahr, Hiroshima, denke ich mir, Hiroshima, Krieg, Atombombe ... und das Summen des Dieselmotors wird im Traumfetzen, der da gerade über mich hinwegfegt, zum Dröhnen, schwillt an, neben mir, die Gischt der ruhigen Inlandsee, sie wird zu verwirbelter Luft, Propeller zerschneiden sie, das weiße Schiff, ein silberner Aluminiumvogel, er öffnet den Boden, sie fällt, fällt, sie fällt und ich öffne die Augen, schaue hinüber zur Stadt und dann, ein Blitz, ein heller Blitz, direkt über der Stadt, blendend weiß, hell, ich schließe die Augen, Druck presst Luft aus meinen Lungen, Staub fliegt, weiß wird schwarz, hell wird dunkel, Inferno, die Hölle bricht los als ein ohrenbetäubender Knall die Bucht hinauf rollt und ich Hitze in meinem Gesicht spüre - ich öffne die Augen und merke, dass es nicht die Atombombe war, die mich trifft, sondern die Sonne, die wärmende, die schöne, und als die Fähre mit einem letzten Schaukeln am Kai des Hiroshima Kanko-Port anlegt und ich von Bord rolle, bin ich endgültig angekommen - Hiroshima, Ende meiner Reise, Stadt mit so viel Geschichte, Schrecken und Last auf den Schultern. Ich bin da, Gefühle spielen verrückt: Wer kann jetzt angesichts dieser Geschichte an so etwas Profanes wie eine Badewanne denken?

Erholung im Schrecken

Es ist noch sehr früh am Morgen, als ich die fast leeren Straßen Süd-Hiroshmas entlang radle. Ich bin selbst noch nicht ganz da, fahre entlang eines grünen Parks, halte in der Hand die Adresse meines Hotels und verzichte auf jedwede Hilfe meiner Karte: Hiroshima, ich kenne die Stadt aus unzähligen Dokumentationen und Büchern, die ich über das bekannteste Kapitel der Stadtgeschichte gelesen habe.

Alles, was ich zu tun habe, ist einem der fünf Flussarme, die wie die Finger einer Hand ins Meer fließen, zu folgen, um irgendwo im Inneren dieser Stadt auf die markante T-Brücke zu stoßen. Jene Brücke, die so einzigartig ist, dass sie vom Bombenschützen der Enola Gay als Zielpunkt für die Atombombe genutzt worden war.

Und obwohl ich vorbereitet bin, obwohl ich mir vollends der Gechichte, der schrecklichen Dinge, die hier, genau unter meinen Reifen, genau in diesen Straßen passiert sind, fühlt es sich seltsam an: Hiroshima, Du bist gar nicht das, was ich erwartet hätte.

Die Menschen in Deinen Straßen, sie gehen ganz normal zur Arbeit.
Die Autos, sie fahren wie eh und je dicht an dicht im Stau.
Schulmädchen in Uniformen kiechern über die Handybildchen vom Wochenende.
Von den Fassaden schreit mich Werbung in Kanji an.
Keine Trauer. Keine Traurigkeit, eine normale Stadt, die lebt, die arbeitet.
Nur, was hatte ich erwartet?

Und so fahre ich durch die Straßen, gewöhne mich an den Gedanken, dass Hiroshima eine lebendige Metropole ist, am Leben, jung, neu, voller Menschen, die leben, die träumen, die arbeiten, normal halt, ganz normal ...

... und völlig unvermittelt, einfach so, genau hinter einer Kurve, auf sattem, kurz geschorenen Grün, stehe ich vor einer Ruine. Vor DER Ruine.

Der Atombombendom, die ehemalige Handelskammer von Hiroshima, Mahnmal und mithin einer der bekanntesten Orte der Welt, unvorbereitet, ganz so, wie damals in der Frühe, ohne Vorwarnung, ohne Sirenen, stehe ich vor den bröckeligen Mauern, sehe das Gerippe der Glaskuppel, die Risse, die Brandspuren. Mir stockt der Atem, das Herz springt an: Atombombe, so siehst du aus! Das machst du. Hier steht Geschichte. Zum Anfassen. Einfach so - neben Glaspalästen, neben Wohnhäusern. An einer belebten Straße. Der Atombombendom.

Ich stoppe.
Ich halte an. Und schaue.
Der Schock der Geschichte hat mich wieder. Blitz, Druckwelle, Feuerwand. Blut, Elend, Strahlentod. Sie rennen und brennen vor meinen Augen. Alles in Schwarzweiß. Der Dom hier ist bunt. Vögel zwitschern. Mädchen in Miniröcken spazieren an mir vorbei. Japan-Kontrast, da ist er wieder. Und ich, in meinem atemlosen Schock, kann das alles gar nicht fassen.

Ein junger Mann auf einem Fahrrad kommt an mir vorbei. Er und seine Freundin halten an, schauen mich an, lächeln mir zu. Ich starre verwirrt zwischen der fast 70 Jahre alten Atomruine
und dem Pärchen hin und her.
Er reckt den Daumen nach oben.
"Konnichi-wa!", rufe ich. Versuche zu lächeln.
"Konnichi-wa!", rufen beide zurück: "We like your bicycle!"
"Arrigato gozaimas! Thank you.", antworte ich.
"You are welcome here in our City - have a nice day, my friend!", wünscht er mir, verbeugt sich und fährt davon.

Die Kinder der Atombombe. Denke ich.

Oder spinne ich jetzt? Wäre das in ihrem Sinne, sie nur auf diesen Schrecken zu reduzieren? Wieder dieses komische Gefühl, das ich schon kenne, von früher, als ich so oft in Oswiecim war, in Polen, als Zivildienstleistender, als Jugendbetreuer, Fahrten gemacht habe in diese kleine Stadt bei Krakau, wo wir, die Deutschen, so viel Schuld auf uns geladen haben - in Auschwitz. Auch hier dieser seltsame Kontrast: Vernichtungslager am Horizont, Eigenheime mit gemähtem Rasen, Spielplatz und Geschäftsstraße im Vordergrund.
Hiroshima. Ich versuche, Dich zu begreifen.

Irdischeres hetzt mich - ich brauche Geld.
Eine Bank akzeptiert meine europäische Visa. Ich zittere, als ich PIN und Betrag eingebe. Und siehe da, ohne Probleme spuckt der Automat 25.000 Yen aus.
Glücklich schiebe ich zu meinem Hotel, keine 500 Meter vom Friedenspark entfernt. Ich parke mein Liegerad im Foyer und begebe mich raus in die Sonne. Es ist noch Zeit, bis ich in mein Zimmer kann. In einem Conbini-Store decke ich mich mit Lebensmitteln und Getränken ein, setze mich im Friedenspark auf eine Bank, mitten in die Sonne.
Ich habe Hunger.
Durst.
Nach fast einem ganzen Tag ohne Essen, mit diesem Druck, dieser quälenden Einsamkeit auf der Parkbank in Matsuyama, nun hier, in Hiroshima, am Ziel, meine Reise - vorbei.

So sitze ich da, esse "Unique German Baumkuchen", trinke einen eiskalten Cappucchino, sitze da, in meinen verschwitzten grellen hautengen Radfahrklamotten.
Sitze da.
Und mache ein Picknick.

Keine 300 Meter von Ground Zero entfernt.

Die Odyssee von Oita nach Hiroshima endet nach 2 Fährfahrten und 16 Stunden und einem Übernachtungsmartyrium in der Stadt des Friedens.