Taifun. Und Herpes.

Tag 11/Ruhetag 3 - Schlimmer geht immer

Es ist ja nicht nur so, dass der Regen draußen nicht nur nicht abgenommen, sondern sich im Gegenteil eher breit gemacht hat. Stärker geworden ist. Nervig. Dicke Tropfen prasseln an die Scheibe meines Hotelzimmers, gehen auf den Busbahnhof unten vor der Tür danieder.

Nein, als ob das nicht schon genug werden, plagt mich von gestern auf heute, einfach so, ein anderes Problem.

Herpes.

Mhh, ja, ein schöner, dicker Blumenkohl, ich merke ihn sofort, als ich aufwache und mir die trockenen Lippen befeuchte - es schmerzt, es nervt, es fühlt sich dick an auf der Zunge.

Ah, herrlich, ein Herpes. Na super.

Die erste Amtshandlung nach dem Zähneputzen - obwohl ich ja weiß, dass es nichts bringt - ist das Einspachteln meiner Unterlippe mit einem Zentimeter Zahnpasta. Burn, Motherfucker, burn!, denke ich mir und beiße aus Frust regelrecht auf die gefüllten Bläschen. Es tut weh wie Sau.

Woher mag der Herpes kommen? Sind es die 20 unterschiedlichen Stäbchen, die ich täglich benutze? Zwar verpackt, aber wer weiß? Sind es die 10 Plastikdosen kalten Cappucchinos, an denen ich täglich nippe? Ist es das Waschen auf öffentlichen Klos in den Conbini-Stores? Keine Ahnung, ist ja auch egal, denke ich mir, ziehe mich an und schalte das TV-Gerät ein.

Was sagt der schlaue Wetterkanal?

Es ist dieser eine Taifun, der mir Sorgen macht. Sie nennen ihn hier mittlerweile "Super Taifun". Und das klingt gar nicht super. Zwar sagen die Vorhersagen, dass es noch Tage dauert, bis der Taifun selbst hier sein wird, aber wenn ich so raus schaue, reichen die Vorboten eigentlich auch schon, um das Radeln zu Hölle zu machen.

Heute, das wird mir schlagartig klar, kann ich hier bleiben. Kumamoto - ich beehre Dich noch einen Tag länger.

Wenn ich mir das draußen so ansehe, dann wird mir Angst und Bange: Dichter Regenvorhang, ich schätze, meine Klamotten sind nach 30 Sekunden durchnässt. Und ich schätze, mein Rad nach 50 Metern unbrauchbar. Ganz davon abgesehen, dass sich die Straßen in Kanäle verwandelt haben - meterhohe Gischtwellen, die von den Bussen, Autos und Trucks aufgeworfen werden, machen eine Fahrt mit dem Rad, noch dazu einem so tiefen wie dem meinen, zu einem Suizidversuch.

Wenn das so weiter geht, wird mir klar, kann ich meine Tour hier abbrechen. Und dabei wären noch 400 Kilometer zu fahren gewesen.

Ich frühstücke, im Conbini fällt mir ein T-Shirt auf: Ein riesiger Reichsadler der Wehrmacht prangt weiß auf dem schwarzen Grund. Darunter in bekannten Lettern "Sixty Seven Motorcycle Club" - das "S" in Sixty Seven als SS-Rune geschrieben.
Der Mann ist kein Rechter.
Hat nicht mal eine Glatze.
Ein ganz normaler, biederer, kleiner Japaner. Ganz und gar nicht Motorrad-Rocker, schon gar nicht Nazi.

Ich starre ihn ungläubig an, als er vor mir in der Schlange ganz lieb seine Coca-Cola bezahlt und sich mit einem netten "Arrigato" bedankt, kurz verbeugt und zu seiner Frau in den wartenden, bonbonbunten Kleinwagen steigt.

Na denn. "Motorrad-Wetter" halt ...

Draußen regnet es Pflaumen. Ein Glück, dass sich ein Family Mart genau unten neben der Lobby meines Kotsu-Hotels befindet.
Kotsu, so erfahre ich aus dem Prospekt, heißt Bus. Aha. Und weil unter uns der Busbahnhof ist, ist das hier das Kotsu-Hotel.

Kanko - Auto.
Kotsu - Bus.

Wieder was gelernt.

Mir ist langweilig. Also schalte ich das TV aus - kann eh nix verstehen. Generalstabsartig (der 67 Motorcycle Club wäre stolz!) breite ich die Karten aus, unten aus der Lobby hole ich mir die Wettervorhersage der nächsten 7 Tage.

Was also nun tun?

Abbrechen? Weitermachen? Nur - wohin?

Der Wetterbericht verspricht vor Eintreffen des Taifuns noch genau zwei Tage Sonne und die gewohnten Temperaturen um die 30 Grad. Dann, also überübermorgen, wird der Taifun anfangen, aus Japan ein Horrorland zu machen. Und dann, so male ich mir aus, wird mir das, was sich da jetzt draußen abspielt, wie Kindergartengeplänkel vorkommen.

Also 2 Tage noch.

Was tun?
Nagasaki kann ich vergessen. Da kann ich morgen - vorausgesetzt, dass die Vorhersage stimmt - zwar locker hinfahren, würde dann aber in einem Rutsch wieder bis hoch nach Kokura zu fahren haben. Und das sind über 200 Kilometer durch teilweise extrem bergiges Gebiet. No Chance.

Obwohl diese Strecke genau das wäre, was meine verkorkste Tour retten würde - eine schöne, weite Schleife bis fast in den äußersten Westen Japans. Nagasaki - Kokura und dann mit Zug oder Fähre nach Hiroshima. Wäre cool.

Wenn, ja wenn da nicht das Problem mit der über 200 km langen Etappe wäre. Google Maps sagt 226 km voraus - und ich will gar nicht wissen, wie viele Höhenmeter da drin stecken. Und diese, da bin ich mir sicher, würden mir meine Knie nie verzeihen.

Was auch, wenn sich die Meteorologen irren? Ich meine, so ein Taifun rast mit 30 bis 40 Metern in der Sekunde über das Meer ... was ist, wenn der schon morgen eintrifft? Oder geiler noch, mich mitten auf der 226 km-Etappe überrascht?

Ich erinnere mich an meinen Traum von gestern.
Schlimm genug, dass daheim die Merkel gewonnen hat - die Story mit dem Baumstamm muss nun nicht auch noch wahr werden.

Und nun?

Ich entscheide mich, Kyushu nach Osten zur durchqueren. Ja, genau, das werde ich tun! Da ich gestern schon eine meiner ursprünglich geplanten Etappen - nur anders herum - gefahren bin, ist es nur logisch, die morgige auch auf der Ursprungsstrecke - nur wieder anders herum - abzureiten. Also nach Oita. Oita soll es sein.

So sehe ich vielleicht sogar doch noch Beppu und seine Onsen-Bäder. Soll der Taifun doch kommen! Soll er doch, denn dann mache ich einfach noch einen Ruhetag, lasse mich im traditionell japanischen Onsen verwöhnen und - das Beste - von Oita aus geht eine Fähre direkt bis nach Hiroshima. Wie geil?

Wenn also das Wetter doof ist, nehme ich das Schiff. Die Strecke verspricht mindestens 8 Stunden Überfahrt. Genial. Entspannt in Hiroshima von Bord rollen. Mit oder ohne Taifun - die sicherere Lösung.

Wenn das Wetter gut bleibt, kann ich ja auch wieder bis hoch über Kokura nach Shimonoseki fahren - denn von dort gehen, das weiß ich, eine Menge Linienbusse - Kotsus - auch nach Hiroshima.

Tolle Planung, beglückwünsche ich mich, und verbringe erst einmal ein paar Stunden im Bett. Nicht, ohne vorher noch eine rituelle Spachtelung meines blühenden Herpes vorzunehmen. Wieder voller Hoffnung, mache ich es mir zunächst vor dem Flatscreen gemütlich, verspeise noch eine Bento-Box Sushi und lege mich dann zum Dösen hin.

Als ich wieder aufwache, schöpfe ich Hoffnung - draußen ist es spürbar heller geworden. Zwar prasselt der Regen nieder wie eh und je, aber ich kann zumindest schon wieder die Häuser von gegenüber erkennen. Sogar manchmal bis zu den Berggipfeln hinter der Stadt. Wow.

Ich mache mich bereit für morgen. Meine Isomatte, meine gute, feine, leichte, unbequeme Isomatte, ich lasse sie hier im Hotel. Brauche sie eh nicht mehr - ab jetzt werde ich sowieso nicht mehr zelten. Ein wenig blutet mir schon das Herz, als ich sie zusammen gerollt unter den Tisch stelle - habe ich doch immerhin einige wunderbare Nächte auf noch wunderbareren Touren auf ihr geschlafen.

Ich verbringe den Abend bei sinnlosen TV-Shows, esse, bade noch einmal und trinke mein obligatorisches, Gold-Asahi. Lecker. Kalt.

Leicht angetrunken mache ich das Licht aus, schlafe ein und hoffe, dass es mich wenigstens noch zwei Tage in Ruhe lässt, dieses Taifunmonster, das da unaufhaltsam durch den Pazifik pflügt, Sturm und Wasser bringt.

Ich schlafe.
Ich träume.
Vom Monster. Während mein Herpes weiter schmerzhaft gedeiht.