Absturz in den Tiefpunkt

Tag 12/Etappe 8 - Nach Oita. Und weiter ...

Der Tag fängt schon so überschwänglich an, Elmsfeuer, Signal, Morgenröte. Fast theatralisch, was die Morgensonne da hinter dem Wolkenvorhang abzieht. Ein Omen. Ich hätte es da schon ahnen sollen, aber wie? Bin ja auch kein Hellseher, bin ja kein Zaubermann.

Ich stehe auf, alles ist wie immer, das Frühstück, das Büffet. Dann losfahren, Kumamoto verlassen, alles klar, kein Problem. Ich komme schnell voran. Über mir glüht der Himmel.
Wie gesagt, ich hätte es ahnen sollen.

Es ist die letzte Etappe der Tour. Irgendwie wabert diese Feststellung über mir, begleitet jede Kurbelumdrehung, schwermütig, gar nicht heldenhaft. Noch 2 Tage Sonne, sagt der Wetterbericht. Und ich mitten drin, muss die Entscheidung treffen. Ein Super-Taifun ist im Anmarsch, na, eigentlich sind es sogar zwei Taifune, aber der andere wird wohl hoch nach Korea abbiegen.

Wie dem auch sei - es ist der erste Taifun meines Lebens. Keine Erfahrungswerte. Was macht man angesichts eines solchen Wetterphenomäns? Aufhören? Einpacken und abhauen? Durchziehen, wird schon nicht so schlimm sein? Keine Ahnung.
Sterben muss nicht sein, nicht hier, nicht jetzt.
Und nass werden auch nicht.

Letzte Etappe also?
Letzte Etappe. Bis Oita, wenigstens. Von dort auf eine Fähre, dann rüber nach Hiroshima. Den letzten schönen Tag auf dem Wasser verbringen. Dann ... mal sehen. Vielleicht die vorzeitige Abreise?

Im Hexenkessel

Ich grübele so viel, dass ich ganz verpasse, mit offenen Augen die Stadt zu verlassen.
Kumamoto, eine Erinnerung schon, die gar keine ist.
Ich trete und trete. In Gedanken.

Die Steigung weckt mich auf. Zurück ins Hier und Jetzt. Vorbei der Taifun. Nee, mein Lieber, erst einmal musst Du hier hinauf. Prozente abreiten.

Die Straße hebt sich an, die Temperaturen steigen, ich sondere Wasser ab, liege im Sitz meiner Speedmachine und blute Schweiß. Kleiner Gang. 8 km/h. Und auf gehts.

Von Kumamoto aus fahre ich gen Osten. Ich habe die Sonne genau von vorn, eine neue Erfahrung auf dieser Tour, die bisher nur ein "nach Westen" kannte. Witzig, denke ich mir, dies ist wieder eine ursprünglich geplante Etappe, nur anders herum. Soll also heißen, dass ich all das, was ich mich hier mühsam nach oben kämpfen muss, eigentlich hätte bergab schießen sollen? Ja, soll heißen.


Größere Kartenansicht

Die Autos dröhnen an mir vorbei. Ich atme Sprit. Atme Staub. Echt langsam. Und dabei echt steil hier. Ich fahre ein, zwei, drei Rampen hinauf, krieche, schleppe mich an den Rand eines Kraters. So zumindest sieht es in Google aus.

Mount Aso heißt er, der Karwenzmann, der in der Mitte des Kraters, marsgleich, fantastisch thront. Ein aktiver Vulkan. Einer von denen, die hier jederzeit ausbrechen könnten, die das Becken, in das ich gleich hinab stoßen werde, jederzeit mit Lava füllen könnten. Spannend, diese Vorstellung.

Neben mir ragen steile Gipfel schroff empor. Im Dunst eines Morgens, der zwar nicht mehr rot glüht, aber dafür glühend heiß ist.

Ich trete mich durch die Serpentinen, die den äußeren Rand des Kraters bilden. Mount Aso, keine Ahnung, welcher von denen das ist, er dampft noch nicht einmal. Irgendwie hätte ich etwas spaceigeres erwartet, aber diese Gipfel sind grün bewaldet, voller Leben, voller Menschen, Dörfer ziehen sich die Abhänge hoch, Reisfelder setzen dem Rot von heute Morgen ihr unverwechselbares Grün entgegen.

Rocky Mountains Feeling

Ich fahre am Berghang des Kraters. Rechts neben mir geht es bergab. Hangabwärts, sollte ich sagen, stellenweise haben sie hier die Straße auf Stelzen in den Hang gestellt - senkrecht hinunterfallen würde man, verliere man die Kontrolle.

Beeindruckend präsentiert sich das Aso-Becken. Zwar brennen die Abgase auf der Zunge und in den Augen, aber ich hangele mich, so oft ich kann, weg vom Asphalt hinüber zu den Berghängen, den steilen Flanken der spitzen Riesen, zu den dichten grünen Wäldern, dorthin, wo ich noch Fetzen von Morgennebel frisch und kühl über die Wipfel streifen sehe.

Mittlerweile fällt es mir wieder gewohnt schwer, zu kurbeln. Ich trinke viel, halte meine trockene Kehle feucht, esse Mitgebrachtes und rede mir Mut zu - Mittagszeit, sie steht an, vor mir, Berge, sie locken, furchtbar, schrecken mich ab, machen mir Angst.

Der kleinste Gang, er ist meine größte Hoffnung. Und dann? Frage ich mich, was ist, wenn ich endlich über diese Stufe hinweg bin? Was ist, wenn ich die Berge hier gemeistert habe? Kommt dann die Ebene, das Tal?
Endlich wieder im Flachen fahren.
Endlich wieder mal Wind im Gesicht spüren.

Wie als Antwort, wirft mir der Mount Aso, der lokale Herr, Gouverneur der Berge, Shogun der Steigungen, eine weitere Serpentine vor die Reifen. Und ich? Muss mich beugen, atme ruhig, zwinge ich mich, und ertrage mit stoischer Ruhe auch diese Prüfung.

Fantastisch trotzdem, was sie hier haben. Erinnert mich an Österreich, an die Alpen, Voralpen, irgendwie. Wenn nicht diese typisch kastenförmigen japanischen Mini-Vans und der charakteristische gelbe Mittelstreifen wären.

Es duftet frisch. Heiß ist es und ich schwitze. Anhalten. Beine lockern. Bin über eine Stunde im kleinsten Gang gefahren, sehe ich, als ich mir die Uhr beschaue. 6 Kilometer geschafft. Was für ein Akt, eigentlich, oder? Und da erst merke ich, wie wenig mich diese Steigungen noch beeindrucken können. Japan, ehrlich, Du musst Dir schon noch was anderes einfallen lassen, um mich noch außer Puste zu bringen.

Und Japan wird.

Auf der anderen Seite

Ich fahre ein in den Kessel. Landwirtschaft empfängt mich. Reisfelder, wohin ich sehen kann, links, rechts, es blüht grün. Ein seichter Wind fegt über die Ebene, ich kann um mich herum den Rand des Kraters erblicken - und immer im Zentrum, der Bezugspunkt, wie die mächtige Zentralgestalt - Mount Aso, der Vulkan, 1.600 Meter ragt er in den Himmel, mächtig, drohend.

Doch heute ist er ruhig, tut nichts, glänzt einfach nur im Sonnenlicht, nicht einmal Dampf steigt auf, etwas enttäuschend, meine ich, für einen aktiven Vulkan. Aber ich provoziere ihn mal lieber nicht.

Die Fahrt durch das Becken ist kurz. Wenig passiert, wohl auch deshalb, weil sich kaum etwas verändert - Reisfelder, wohin das Auge blickt, kein Kontrast stellt sich meinem Auge entgegen, kein bisschen Abwechslung, ein Dorf, ein Feld, ein Dorf, ein Feld.

Und irgendwann stoße ich am östlichen Rand wieder auf das Ende des Kessels.
Von links nach rechts zieht sich aus dem Dunst der Mittagshitze ein Band aus Berg vor mir entlang. Eine fast senkrechte Mauer, es scheint, als haben die Japaner vergangener Zeiten hier ein monströses Bauwerk errichtet, eine steile, unüberwindliche Wand, ein Wall, eine fantastische Grenzanlage. Nur der Wald, der sanft die steilen Hänge bedeckt, zeugt von der urzeitlichen Entstehung.

Wie eine Wanne, stelle ich mir vor, wie ein riesiger Kessel umschließt diese Mauer das Aso-Becken. Flutete man es, es wäre ein Binnensee von unglaublichen Ausmaßen. Aber das Lachen vergeht mir, je näher ich der Wand komme. Sie wächst über mich hinweg, schwillt an, brutal, steil. Keine Chance, dem da jetzt zu entkommen - da muss ich rüber. Und tatsächlich, wenn ich mich anstrenge, erkenne ich eine Art Schlucht, eine Kerbe im Mauerwerk.

Komisch, denke ich, ich bin schon wie ein Straßenplaner - durch Japans Berge abgehärtet, mein Auge geschult ob des besten Anstiegs.

Die Kerbe schwillt an, bis ich sie ganz nah vor mir sehe, ich erahne sogar die Streckenführung. Wie hoch mag das sein, frage ich mich? 200 Höhenmeter? Bestimmt!

Kurz vorher stoppe ich, flüchte mich in einen dichten Bambuswald und erleichtere meine Blase. Dann stehe ich da herum, laufe eine Weile im Kreis, glaube, mich an heißem Saft erfrischen zu können und starre auf meinen Kilometerzähler - unglaublich, wie wenig km da stehen. Dieser Anstieg von heute morgen, diese - wie viel waren es gleich? 6 km? - die mich so unendlich viel Zeit gekostet haben. Und nun noch dieser Anstieg. Vielleicht nicht ganz so lang - aber sicher steiler, extremer.

Man, o man. Ich stöhne, ächze, als ich mich in den Sitz meines Liegerades wuchte, meine Schuhe einklinke und die Kerbe von Aso in Angriff nehme. Was solls? Eine Wahl habe ich ja eh nicht.

Die Serpentinen fordern von Anfang an alles. Es ist steil. Es ist eng. Es ist gefährlich. Mal links, mal rechts von mir fällt der Abhang fast senkrecht ab, nur im oberen Teil des Anstiegs schützt eine massive Ballustrade vor dem Absturz. Gottseidank ist der Verkehr jetzt um die Mittagszeit nicht allzu dicht, sodass ich mich auch von Zeit zu Zeit ausspannen kann, nicht so verkrampft darauf achten muss, nicht den extrem schmalen Seitenstreifen zu verlassen.

Dann kurbele ich - logisch, im kleinsten Gang - auch mal auf die Fahrbahn, lasse meine Gedanken schweifen und lenke mich mit einem Blick ins Becken unter mir ab. Abschweifen, ablenken, von der heißen Sonne, die fast wieder unerträglich ist und dem Gefühl des Scheiterns, das mir langsam die schmerzenden Waden hinauf kriecht, neues Futter gibt.

Langsam geht es voran. Meter um Meter. Es ist, als halte mich ein uralter Zauber im Kessel gefangen, als zögen mystische Fesseln an meinem Hinterrad - dem mächtigen Aso entkommst du nicht!

Und doch, mit jeder Kurbelumdrehung, die ich mühsam in den weichen Asphalt stampfe, bringe ich mich einige Zentimeter weiter fort vom Vulkan, vom Gott Aso, der mich mit Steigung straft, mit Hitze quält.

Alles Quatsch, natürlich, denke ich, als ich eines klaren Momentes, irgendwann auf der Mitte des Anstiegs, meine Speedmachine am Straßenrand parke und, völlig außer Puste, ein paar Meter zurück laufe, die Fahrbahn überquere und ins Land unter mir schaue: Wie ein buntes Schachbrett leuchten die Reisfelder ihr Grün in die Gegend, schemenhaft zeichnet sich der mächtige Kraterrand bis zum Horizont ab, unten, Ameisenautos, Ameisentrucks.
Gleich werden sie hier oben sein, an mir vorbeidröhnen und mir ihr Abgas in meine brennenden Lungen pressen.

Ein wundervoller Ausblick, denke ich andächtig. Wundervoll und schön. Einer, den ich mir verdient habe. Klackernd stolpere ich zum Fahrrad zurück. Weiter, du musst weiter, denke ich mir. Gerade mal 70 Kilometer geschafft. Das ist noch gar nichts!

Was folgt, ist unbeschreiblich.

Denn alles, was den nun kommenden Serpentinen voran ging, war höchstens Geplänkel. Hinter der Kurve wartet zunächst ein Tunnel auf mich, kein Problem, denke ich an Kanada zurück, quetsche mich am äußersten Rand die Steigung zwischen dröhnenden Trucks hinauf und triumphiere, als ich das Ende erreiche. Aber dann erblicke ich sie - abenteuerlich in die Berge gesprengte Kurven, steile Passagen und Rampen, bei denen sich selbst die Rohloff hinter mir weigert, diese zu meistern.

Das Endstück der Kerbe vom Aso-Becken ist eine einzige Qual. Langsamer noch als vorhin, schwerer noch als bisher, schlimmer noch als alles, was bis hierhin zu meistern war, habe ich das Gefühl. Die Steigung ist mörderisch.
Ich brate in der Sonne.
Komme kaum voran.

Einen Steitenstreifen gibt es kaum mehr. Es sind dicke Splitsteine, auf denen ich entlang holpere, neben mir ein scharfer, 30 Zentimeter breiter Wasserabfluss. Wenn ich da mir einem Rad reingerate, sind meine Hydraulikbremsen, die Bremsscheiben und die Felge hinüber. Von mir ganz zu schweigen. Truck um Truck rasselt an mir vorbei, jedes Mal bekomme ich eine gescheuert vom Fahrtwind. Asos letztes Aufgebot, rede ich mir ein, gleich hast du es, gleich hast du es!

Hab ich auch.
Irgendwann.

Die Straße senkt sich. Ich fahre in den kühlen Schatten eines Waldes ein. Irgend ein Schild erzählt etwas von Wald und Eco. Sogar der Seitenstreifen ist wieder da. Autos und Trucks gibt es auch keine mehr. Und als ich mich umdrehe, hinter mich blicke, da sehe ich nur noch, wie die Straße da hinten ganz seicht abkippt und in eine verschüchterte Kurve abbiegt.

Man, das muss eine Abfahrt sein! Und ich erinnere mich - eigentlich war geplant, dass ich diese Strecke in die andere Richtung fahre. Heißa, was hätte ich jetzt für einen Spaß gehabt! Und dann erst der Anstieg aus dem Aso-Becken hinaus, den ich heute morgen fahren musste - kurz bergan und dann eine lange Schussfahrt nach Kumamoto herrlich!

Naja, tröste ich mich. Vielleicht bekomme ich ja auch noch ein schickes Bergabstück.
Bitte? Aso-Gott? Bitte, ja? Nur ein kleines, feines, aufregendes Bergabstück.
Ach, oder lass mal. Dann lieber keine Passagen mehr, die bergauf gehen. Das würde mir schon reichen ...

Ich trinke einen langen Schluck, beschließe, im nächsten Conbini Mittag zu machen und trete rein. Wow, denke ich mir, ich habe den Mount Aso bezwungen!

Schussfahrt nach Inukai

Noch lange nicht geschafft. Lange lange noch nicht. Der Triumph, der mir da die Speiseröhre hinauf zu quellen versucht, er ist verfrüht. Gerade einmal 110 km habe ich geschafft, 30 muss ich noch.

30 Kilometer, an sich nicht Schlimmes, das sind, wenn es schlecht läuft, vielleicht 2 Stunden, und so, wie ich die Berge, die ich nun vor mir sehen kann, einschätze, wird es wohl auf zweieinhalb Stunden hinauslaufen. Berge. Ach schön, denke ich. War ja klar. Nicht, dass die zermürbenden Serpentinen des Aso-Beckens genug wären, nein, der Steigungsgott hat ja immer noch einen.
Einer geht noch.
Einer geht noch!

Ich fahre los. Und wundere mich. Hä? Geht es hier etwa bergab? Bin ich in Trance? Träume ich? Es tritt sich leicht und rund, ohne Mühe beschleunige ich binnen kurzer Zeit meine Speedmachine auf 28 km/h - zum jetzigen Zeitpunkt der Etappe eine außergewöhnlich hohe Geschwindigkeit. Und dann gehen 30 km/h durch, dann 32 km/h.
Wa ist hier los? Was ist in meinen Trinkflaschen?

Tatsächlich öffnet sich vor mir, egal, wie und wo ich fahre, immer ein Tal. Und tatsächlich sehe ich, wenn ich mich umdrehe, dass es bergab geht. Ich fahre bergab. Leicht nur, nicht viel, keine fetten Gradienten - Geschwindigkeitsrekorde fallen hier heute sicher nicht - aber geht bergab.

Wow! Ich jauchze - 35 km/h und ich halte sie! Ich schieße förmlich die Straße entlang, endlich knallt mir wieder Wind in den Ohren, endlich spüre ich wieder Fliehkräfte beim Durchfahren von Kurven, die mich in den Sitz pressen, die mich anmachen, mich anfixen.
Yeah, geile Sache, rufe ich, Depeche Modes "Behind the wheel" dröhnt laut durch meinen Kopf als ich mal durch Wald, mal an sattgrünen Reisfeldern vorbei falle.

Yeee-haw! Möchte ich brüllen - als eine satte 42 auf meinem Bike-Computer steht, ich meine kaum mehr spüre, so sehr kurbeln sie mit Freude in Rage, klackert der Freilauf, rasselt die Rohloff im Speedrausch. Hossa, was ist denn hier los?

Auf einem Schild steht, dass es nur noch 15 km bis Oita seien, meinem Ziel und ich kann es kaum fassen - nach dem Schneckengang im Aso-Becken, nach dem ich nun fast im eigenen Schweiß am Kamm ersoffen wäre, breche ich sie nun also doch, die Gechwindigkeitsrekorde.

Komisch, erinnere ich mich, als ich eine Pinkelpause in einem der schönen, mysteriösen Bambuswälder einlege, genauso war es auch in Kanada, auf einer der letzten Etappen - genau, nach Vancouver - als ich die Rocky Mountains verlassen habe und auch mit über 35 km/h und das ganze 160 km lang in die schicke Stadt am Pazifik geschossen bin. Und heute? Genau das selbe, ich rase wie ein geölter Blitz. Wie ein Samurai, der wütend ist.

Heiß ist es trotzdem noch. Und zu denken, dass der Fahrtwind ausreichen würde, mich zu kühlen, ist falsch. Ich triefe, Sturzbäche salziger Lebensflüssigkeit rinnen an mir hinab, als ich an einem Family Mart mitten in der Pampa stoppe, mir eine Schachtel Spaghetti Bolognese á la Nihon erwärmen lasse und die heiße Pasta samt Seetangsalat und eiskaltem Calpis-Water mitten in der Sonne sitzend am Straßenrand verputze.

Mir ist nun alles egal. Wie weit noch bis Oita? 20 km? 15 km? Weit kanns nicht mehr sein jedenfalls, und mal ehrlich, wenn das hier so weiter geht, bin ich in weniger als einer Stunde da. Ha, wie genial - weniger als eine Stunde!

Und ich beschließe etwas - dies hier, heute, es ist die letzte Etappe. Kein Weiterfahren mehr. Nicht mehr hoch nach Kokura, keine Experimente! Heute endet sie, meine Japan-Tour. Ich werde mir schön einen Platz auf der Fähre suchen und richtig sutsche nach Hiroshima einreisen. Werde dort ein, zwei Tage verbringen, meinen Flug umbuchen und - wenn ich Glück habe - noch vor dem Taifun das Land verlassen können.

Nee, heute ist Schluss.
Letzte Etappe.
Letzte Höhenmeter.
Ich bin alle. Merke ich, als ich satt bin.


Die Straße windet sich noch ein letztes Mal durch eine Bergkette. Ich komme durch verschlafene, kleine Dörfer, wenig los hier, aber dafür werde ich mich Ausblicken belohnt - in den scharfen, engen Tälern sind wahre Schätze japanischer Dorfkultur erhalten geblieben. Abenteuerlich in den Hang geschnittene Terassen, auf denen selten schöne Holzhäuser stehen, Tatami-Tempel. Kleine Friedhöfe mit knallroten Torii, verwitterte Shinto-Stätten und immer wieder dieses japanische Grün, diese Reisfelder, die wie Neon aus der Landschaft strahlen.

Ich kämpfe mich einige kleine Steigungen hinauf, schieße kurze Abfahrten hinab, komme durch eine breite Ebene und da ist es - Inukai, der letzte Ort vor Oita, Etappenziel. Ende der Reise.
Ich rolle ein. Bremse ab, komme zum Stehen, wow, muss ich kurz Luft holen, das war ein regelrechter Husarenritt!

Da stehe ich und pumpe Luft in die Lungen.
Kreuzung.
Nur noch ein mal links abbiegen nach Oita.
Ich bleibe stehen. Unter einem Schild, das ich auch aus Deutschland kenne. Verkehrszeichen 331. Kraftfahrstraße.

Für Fahrräder verboten.

Mal was Neues: Der Autobahnradweg

Das kann doch nicht wahr sein, denke ich.
Stehe wie blöd an der Kreuzung, glänze im Schweiß, die Ampel vor mir schalten ein paar mal von Rot auf Grün, von Grün auf Rot und ich bin einfach fassungslos. Wie kann das sein? Die können doch nicht die einzige Straße, die nach Oita führt, auf einmal zur Autostraße machen und uns Radfahrer ... einfach so ausklammern?!

Ich müsste links abbiegen, aber da sehe ich schon, nicht weit entfernt, wie aus den normalen Straßenschildern die grünen der Expressways werden - Autobahn. Keine Chance, Speedmaschinist, keine Chance.

Ich biege rechts ab, komme in ein kleines, klitzekleines Dorf, verschlafen, tot, Mittagshitze flirrt durch enge Gassen auf deren Wegsteinen ich entlang holpere. Nein, das kann nicht richtig sein. Verdammt! Ich ziehe mehrmals meine Karte, breite sie aus und studiere sie - nein, es gibt nur diesen einen Weg. Es gibt nur diese eine Chance. Und das ist die Autobahn. Ist in meiner Karte nicht als solche verzeichnet, aber so ist es nunmal - Autobahn.

Was tun? Das Oita-Massiv im Süden zu umrunden würde einen Umweg von mehr als 30 Kilometern bedeuten - und das Kämpfen mit kleinsten Straßen, die sich gefährlich serpentinenreich durch die Berge winden. In meinem Zustand ein Ding der Unmöglichkeit.

Da sitze ich nun. Ein leerer Schluck Wasser. Falle in mich zusammen, kann kaum klar denken, die Hitze, die Müdigkeit und der Frust quellen mir zu den Ohren hinaus. Das kann doch nicht wahr sein! Immer wieder, das kann nicht wahr sein! 15 Kilometer - höchstens - noch, und die sperren uns aus?
Nein!
Stopp!

Ist mir doch egal, wisst ihr was? Leckt mich doch! Arrigato!
Ich nehme die Autobahn. Scheiß drauf!

Entschlossen kurbele ich durch das Dorf, komme an meine alte Kreuzung, sehe das Kraftfahrstraßen-Schild, schaue demonstrativ weg, habe Grün, schiebe mich an den glotzenden, wartenden Autos vorbei - jahaaa, da komme ich, da staunt Ihr, was? Ist mir scheißegal, dass das hier ne Autobahn ist, schreie ich in Gedanken und trete noch entschlossener.
Rauf auf den Highway.

Und da sehe ich ihn - den Radweg.

Ein recht angenehm breiter, fein asphaltierter Radweg. Sogar blaue Schilder mit Radlern drauf laden mich ein, ihn entlang der Autobahn zu benutzen. Hää? Wieso verbietet Ihr erst die Fahrräder und dann gibts hier sogar einen Autobahn-Radweg? Versteht das noch einer?

Ich fahre drauf, mal hinter, mal vor der Leitplanke, links von mir brausen die Autos vorbei, nicht viele, es ist erstaunlich leer hier für japanische Verkehrsverhältnisse, ich brutzele wieder in der Sonne, aber weiß nun, dass ich gut voran kommen werde und die paar letzten Kilometer - da auf einer nivellierten Autobahn unterwegs - fast ohne Steigungsprozente werde abreiten können.

Ah, herrlich, frohlocke ich, schon dem Nervenzusammenbruch nahe gewesen, und dann dies. Ein Radweg. An einer Autobahn! Auf sowas können wieder nur die Japaner kommen!

So trete ich mich den Highway entlang. Es geht seicht bergab, wobei ich nie wirklich schnell werden kann, da sich der Radweg als wenig gereinigter Schmutzfänger entpuppt und alle paar Kilometer kompliziert die Auf- und Abfahrten der Autos umfahren werden müssen.

Dafür führen hohe, schmale Brücken über tiefe Täler. Manchmal halte ich an und schaue mir den Urwald an, der da wild und unerforscht unter mir brodelt, es zischt und quäkt in den Bäumen, was da alles an Tieren herumkrauchen muss?

Mir geht es zwar nicht viel besser - Erschöpfung macht sich breit - aber ich wähne mich dem Ziel nahe. Angst machen mir allein die Berge, die da vor mir im Dunst auftauchen. Mächtige Brocken, die ich hoffe, um- oder durchfahren zu können.

Irgendwann stehen neben der Autobahn die ersten Häuser. Irgendann kommt die erste Patchinko-Spielhölle in Sicht, dann eine Lawson-Station, mehr Häuser und mehr Häuser und mehr Häuser und dann, nach einer langen aber nicht sehr fiesen Steigung, endlich, das Schild: Oita. Ich bin da.

Fröhlich, aber total ausgelaugt, mache ich eine Pause. Trinke einen kalten Mt. Rainier-Cappucchino und sitze triumphierend auf meinem Parkplatz-Randstein. Ah, herrlich, denke ich mir voreilig: Jetzt nur noch zum Hafen, dann auf eins Schiff und dann, dann gehts nach Hiroshima. Sieg, will ich brüllen, Sieg - ich habs geschafft!

Aber da sind noch einige Kilometer.
Und die werden bergig.

Ich komme über atemberaubend geschwungene Brücken die in irrwitziger Höhe durch Bergkuppen stoßen, ich balanciere auf kleinen Seitenstreifen über hochgelegte Bahnen, schlängele mich am 5ten Stock der Wohnhäuser vorbei und irgendwann stehe ich an einer Mautstation. Bezahlen? Moment mal ... will ich anfangen, aber da sehe ich, dass Radfahrer nichts bezahlen müssen. Also weiter. Eine Schussfahrt beginnt, mit über 60 Sachen - wie es sich gehört - reite ich in Oita ein, ein Riesenmoloch once more, denke ich, habe Depeche Mode im Kopf, sehe mich schon an Bord des Schiffes auf einer großen Tatami-Matte liegen und dann stecke ich mitten im anschwellenden Nachmittagsverkehr. Stau. Ruß. Abgas.

Und kein Straßenschild, das mich zum Port oder Kanko-Port lotsen will.

Ich versuche, in Richtung Küste zu kommen, was sich als schwierig erweist - wie will ich in diesem Dschungel aus Beton und Glas-Palästen, dazu erstickend im Qualm der Blechkarossen, auch irgendwie die Küste finden? Ah, ich frage, Fragen ist immer gut.

An einem Hilton steige ich ab. Klackere durch die Lobby, meine Cleats lassen die Köpfe von nicht weniger als fünf Rezeptionisten in meine Richtung blicken. Sie lächeln, verbeugen sich kurz.
"Konnichi-wa!", begrüße ich sie.
"Konnichi-wa!", grüßen auch sie zurück.

Wo denn der Hafen sei. Ich möchte doch so gern noch heute nach Hiroshima.
Sie stutzen. Der Hafen, ja der ist ganz einfach zu finden - immer geradeaus. Aber Hiroshima? Es gehe gar keine Fähre nach Hiroshima. Woher ich das wüsste, fragen sie.
Ich, zunächst froh, auf dem richtigen Weg zu sein, zücke meine Karte. Ganz klar, eine gestrichelte Linie, die von Oita nach Hiroshima geht. Klare Sache. Es muss eine Fähre fähre geben. MUSS!

Nein, bestätigen sie mir alle fünf, da geht keine Fähre.
Okay, nehme ich die Herausforderung an: "If there´s no ferry, I´ll come back and take a room, okay?"

Ja, da freuen sie sich.

Ein Lichtblick

Der Hafen ist tatsächlich nicht weit. Ich fahre noch ein, zwei Kilometer, erreiche dann den Kai und fahre an ihm in westlicher Richtung entlang. Alte Fischerboote dümpeln herum, rostige Kähne liegen in Trockendocks wie verwesende Wale. Klapprige Stückgutfrachter werden mit Erz beladen, Schuten bringen Schrott und Wohlstandsmüll zu den monsterartigen Klauen der Hafenkräne. Es riecht seltsam nach frischem Meersalz und altem Diesel. Es knattert und rattert, es heulen Sirenen, es blinken Lampen - dieser Hafen lebt. Und es ist kein HighTech-Containerterminal, in dem die Computer die Macht übernommen haben, dies hier, romantisiere ich, ist ein Hafen, wie man ihn in Deutschland schon gar nicht mehr sehen kann.


Größere Kartenansicht

Dann sehe ich von Weitem die Fähre. Ich kenne sie bereits. Großes weißes Schiff, ein riesiger Kasten, optimiert für den Transport von so vielen Trucks wie möglich. Weiß, eine weiße Kiste, rot prangt die Flagge Japans am Rumpf.
Oita Kanko-Port. Da ist er. Ich habe das Fährterminal erreicht.
Wie geil, freue ich mich.
Jetzt nur noch ein Ticket lösen. Und dann ab nach Hiroshima.

Ein uniformierter Hafenarbeiter winkt mich zu ihm. Ich sage ihm freundlich Hallo, er hallot zurück. Will mein Ticket sehen.
"Oh, I do not have one yet.", sage ich.
"You can buy one over there!", sagt er in überraschend gutem Englisch und deutet auf ein Gebäude. "Want to go Matsuyama?", fragt er weiter.
Nee, Matsuyama kenne ich schon.
"No, no. I want to get to Hiroshima."
Er runzelt die Stirn. Oh nein, denke ich, bitte nicht. Dann kreuzt er beide Unterarme: "No Hiroshima."
Ich frage, ob die Fähre heute schon weg wäre.
"No, no - no Ferry to Hiroshima. No Ferry!"
"Not today - but tomorrow?", bohre ich weiter.
"No, no Ferry to Hiroshima - come with me, come with me, please!", winkt er mir, dass ich ihm folgen solle.

Im Terminal selbst lotst er mich durch die anstehenden Kunden hindurch zu einer Dame, der er kurz mein Anliegen auf Japanisch darlegt. Ich höre "Kanko" und "Hiroshima" raus. Und merke schon an ihrem Gesichtsausdruck, dass es weiter gehen wird, mit den Problemen. Sie schaut mich an, ruckelt sich auf ihrem Stühlchen zurecht, nimmt eine Karte und zeigt auf Oita.
"Oita.", sagt sie.
"Hai!", entgegne ich. Ich verstehe.
Dann sagt sie einen langen Satz, den ich nicht verstehe - aber indem sie mit dem Kugelschreiber eine weit ausholende Bewegung macht, erkenne ich, was sie sagen will: "Von hier aus fahren die Fähren nach ..." und weiter auf der Karte: "... Usajima, nach Osaka oder nach Matsuyama."
"Hai!", mache ich wieder, auch das verstehe ich. "Hiroshima?"
"Ie, No Hiroshima."
Aha. Kein Hiroshima also.
Sie starrt mich an. Lächelt. Dann sagt wieder was auf Japanisch, deutet mit dem Kuli auf die Karte und fährt etwas nach Norden: "Beppu.", sagt sie, "Hiroshima, hai!"
Aha, von Beppu also.
Beppu ist gar nicht so weit weg. 20 Kilometer höchstens. Immer an der Küste entlang. Bestimmt nett ...

Oder, sagt sie weiter, ich könne auch nach Kunisaki fahren, einem kleinen Nest nördlich von Beppu und dann nach Kudamatsu übersetzen. Von dort aus wäre es - das sehe ich - nur eine Tagesreise nach Hiroshima.
Na, das lassen wir mal, denn ich habe angeblich ja nur noch morgen schönes Wetter. Und morgen komme ich gerade zur Fähre, müsste also übermorgen im Regen nach Hiroshima fahren. Obwohl das die beste Alternative wäre, denn so würde ich nochmal viele Kilometer machen.

Aber.
Aber ...

Aber warum auch immer, entscheide ich mich anders. Ich starre auf die Karte. Sehe Osaka, sehe Beppu, sehe Matsuyama, warum auch immer, ich weiß es nicht, entscheide ich mich, zu bleiben. Irgendwie gewinnt dieser komische, bescheuerte Plan den Kampf der Gedanken in meinem Kopf. Und warum auch immer ich mir dieses ausgedacht habe, ich entscheide mich - ich bleibe, fahre nach Matsuyama, steige in die Fähre nach Hiroshima und habe dann 2 Fährfahrten anstelle einer.

"So, I´ll take a Ticket to Matsuyama, Please."
"Hai!", macht die nette Dame, der Hafenarbeiter verabschiedet sich, verbeugt sich und bedankt sich (ich tue es ihm nach) und geht winkend wieder auf seinen Posten.
4.000 Yen muss ich zahlen, wie billig, denke ich, zücke meine Visa-Karte und schaue auf den Timetable: 17:30 Uhr geht die Fähre, also nur noch ein knappes Stündchen. Perfekt!

Da funktioniert die Visa nicht.
Zweites Terminal. Sie zieht die Karte durch.
"Piiiiep!", nope, auch hier nicht.
Scheiße. Ich gebe ihr meine EC-Karte. "You take EC?"
"Hai!", nickt sie und zieht diese Karte durch.
"Piiiiep!", das darf doch nicht wahr sein!
Sie reicht mir beide Karten - mit einem Sumimasen der Entschuldigung.

Mir schwant nichts Gutes. Ich bezahle meine letzten 4.000 Yen in Bar, die ich eigentlich für ein leckeres Essen an Bord aufsparen wollte. Visa funktioniert nicht. Wieso das denn?
Ich bekomme mein Ticket, sie sagt mir, wo ich hingehen soll.
Aber ich denke nach.
Ach, halt mal - ist nicht Monatsende? Ja, genau! Vorgestern war Wahl, 27.9. - also muss jetzt Oktober sein. Ach du Scheiße! Da hat Visa bestimmt vom Girokonto abgebucht, Miete und der ganze Kram ging auch ab und nun ist wahrscheinlich mein Konto gesperrt, Visa konnte nicht abbuchen und hat nun die Kreditkarte gesperrt.
Ja, so muss es sein.
Ach du Kacke!
Au Backe!
Scheiße!
Scheiße - kein Geld mehr.
Mitten in Japan!
Mich trifft es wie ein Schlag.

Nachdenklich niedergeschlagen gehe ich zu meinem Rad. Neben ihm parkt ein Rennrad-Randonneur mit Anhänger. EIn kleines, 26er Rennrad, wie ich von diesen schon oft in Reiseführern gelesen habe: Was sollen die kleinen Japaner auch mit den großen 28ern.

Ich sitze da, denke über mein Visa-Problem nach, als der Biker kommt - ich höre es am Cleat-Klackern hinter mir.

"Ah, the Cyclist!", ruft er und grinst mir herzlich ins Gesicht.
"Hello! My Name is Lars, Konnichi-wa!", mache ich, verneige mich.
Es stellt sich heraus, dass dieser drahtige, quirrlige Herr Akira Hashimoto aus Osaka ist. Er habe Ferien und war nun genau meine Strecke abgefahren. Eine Woche von Kokura über Kumamoto nach Oita. Eine Woche.
"So, where you from today?", will er wissen, wo ich meine Etappe heute begonnen habe.
"I started in Kumamoto today."
"Kumamoto?!?", rührt es ihn wie vom Blitz getroffen.
"Hai!"
"Woooow! Suuuugoi!", macht er begeistert: "I started in Kumamoto three days ago - and you do it in one day?"
"Hai!", ich freue mich.

Akira geht etwas essen.
Und ich sitze allein da, bewache unsere Räder. Dieses angenehme Gespräch kann mich nur kurz aus meinen Horrorvorstellungen reißen - Visa überbucht, geht nicht mehr. Und ich muss noch so viele Hotels bezahlen, so viele Frühstücke, Mittage und Abendessen essen, muss noch die Fähre nach Hiroshima zahlen. Muss trinken. Muss ... muss!
Und was nun?
Via geht nicht mehr.
WAS NUN?

Ach du Scheiße!, kann ich immer nur noch denken.
Ach du Scheiße!

Ein Absturz

Nervös beiße ich die ganze Zeit auf meinem Herpes herum. Meine Fresse, denke ich immer wieder, wie kann man nur so doof sein und ohne genug finanzielle Mittel, ohne wenigstens vorauszuberechnen, ins teuerste Reiseland der Welt ausbrechen - auch wenn es sich als preiswerter als erwartet heraus stellt?
Wie kann man nur so doof sein?

Und - als ich an Bord der Fähre schiebe denke ich - wie kann man nur so doof sein, und das ganze Geld in Hotels verplempern, obwohl man doch für ein Drittel des Preises - und bei Wildcamping sogar vollkommen kostenlos - zelten könnte? Ich meine, ich schleppe das Zelt eh immer mit, also warum zur Hölle habe ich es nur drei mal benutzt?

Ich könnte mich schlagen, als ich zu meinem "Single Bed" gehe, wie es auf dem Ticket steht: Wie immer eine Decke und ein hartes Keilkissen in einem der großen Schlafdecks, die nur aus Tatami-Matte bestehen. Ich bin so fertig, verschwitzt, die Beine zucken, körperlich am Ende. Heiß ist es trotz Klimaanlage, und so lege ich mich in meine verschwitzten Klamotten, während die dicke Fähre gen Matsuyama, dem Hafen, den ich schon kenne, ablegt, und ich mich im Einschlafen frage, warum nur, warum nur ich so bekloppt bin ...

... 3 Stunden später legen wir an. Benommen, groggy wanke ich in den Stahlbauch, schnappe mir mein Fahrrad. Heißer Hunger knurrt mir im Magen. Einen Kaffee hätte ich jetzt gern. Und was zu Essen, ganz viel, viel brauche ich jetzt! Aber halt - da sind nur noch 1.000 Yen in meiner Tasche. Zu wenig für ein Ticket nach Hiroshima, das weiß ich, zu wenig auch für ein Restaurantbesuch.

Im Terminal stelle ich meine Speedmachine dorthin, wo sie schon vor 4 Tagen gestanden hatte. Zücke meine Visa-Karte (man darf die Hoffnung nicht aufgeben) und lege mir eine Ausrede zurecht, falls sie wieder nicht funktionieren sollte.
An dem Schalter, wo sie die Fahrkarten nach Hiroshima verkaufen, bitte ich die Dame, mir ein solches zu geben.
Sie zögert. Oh man, was denn nun?
Sie zögert und lächelt: "Hiroshima ... today ... no Ferry.", stammelt sie lächelnd.
Nee, oder? Heute keine Fähre mehr?
"Super-Jet okay - but no bicycle."
Was? Wie? Keine Fähre mehr, nur noch der Katamaran, aber der nimmt keine Bikes mit?
"Hai!", lächelt sie mich an.
Wann geht die Nächste?
Sie malt eine Uhrzeit auf: 6:30

Meine Güte, denke ich, bedanke mich und schlurfe zurück zum Fahrrad. Es ist jetzt 22 Uhr. Also achteinhalb Stunden hier im Terminal? Ich sitze da, falle immer tiefer in ein schwarzes Loch und frage mich, wer zur Hölle auf die tolle Idee kam, über Matsuyama nach Hiroshima zu wollen! Ich hätte noch ein paar Kilometer nach Beppu kurbeln können und wäre dann direkt gefahren! Aber nein, der Herr Bequemlord musste ja unbedingt heute noch Fähre fahren. Tolle Wurst - über 8 Stunden sitze ich nun in diesem sterilen Terminal herum!

Da kommt ein Polizist, lächelt mich an, deutet auf das Fahrrad: "No Bicycle."
"Yes, I will leave soon.", beschwichtige ich ihn.
"When?", fragt er.
"I leave for Hiroshima with next Ferry.", antworte ich diplomatisch. Aber ihn kann ich nicht für dumm verkaufen.
"Hiroshima? No Ferry today - Tomorrow!", sagt er.
"Hai! I know", lächle ich ihn an.
"But Bicycle - not here! Outside, please.", sagt er.

Vor vier Tagen habe ich fast 5 Stunden in dieser Halle verbracht - mit der Speedmachine - und da hat es doch auch keinen gestört?! Aber da hatte Clint Eastwood hier wohl auch kein Dienst.
Ach schön, denke ich, als ich mein Rad nach draußen in die Schwüle schiebe, dunkel ist es bereits - schlimmer kanns ja eh nicht kommen.

Oh, doch. Kann es.
Denn nachdem ich aus dem Terminal geschmissen wurde, eine kleine Fahrt entlang des Hafens ergeben hat, dass es keinen einzigen grünen Fleck zum Zelten hier gibt, bleibt mir nur, mir zum Übernachten eine Bank hinter zwei Werbetafeln zu schieben.
Neonlicht flimmert über mir, fette Motten fliegen lautstark gegen die Lampen, Autos zischen vorbei, der Parkplatz, an dem ich hier bin, ist zwar leer, aber das macht ihn noch mehr spooky.

Ich sitze da, der Magen knurrt. Durst habe ich.
Das Terminal ist längst dunkel und abgeschlossen.
Matsuyama. Bei Nacht. Das Meer, es rauscht. Wie nett, denke ich.

Und im selben Augenblick werde ich mir meiner Lage bewusst: Kein Geld, kein Ticket. Und wie soll ich nach Hause kommen?

Tiefer sinken geht nicht - ich hole meinen Schlafsack heraus, breite ihn auf der viel zu schmalen, viel zu harten und viel zu kurzen Bank aus. Versuche zu schlafen, rede ich mir ein, versuche zu schlafen!

Geht aber nicht.

Was mache ich nur, ohne Geld?
Zuhause die Sparkasse anrufen und um Notgeld bitten? Aber ich habe nur noch 1.000 Yen, das reicht nicht für ein Telefonat nach Deutschland. Also in einem Hotel fragen? Kann ich machen. Oder in Hiroshima zum deutschen Konsulat. Kann ich auch machen. Ach Mist, ich komme ja nicht bis Hiroshima!

Ich dämmere immer mal wieder weg. Schweiß gebadet wache ich dann auf, mein Hals, verquer gelegen, er schmerzt, ich kann mich nicht ausstrecken. Kann nicht auf der Seite liegen. Es ist heiß hier draußen, es nervt. Ich habe Kopfschmerzen, viel zu wenig getrunken nach dem Gewaltritt.

Bin deprimiert. Ohne Geld kannste hier alles vergessen, rede ich mir ein.
Ohne Geld bist Du ein Nichts hier.
Visa geht nicht.
Girokonto ... da wird der Dispo längst schon überzogen sein.
Nein, so geht das nicht. So geht das nicht!
Das darf doch nicht wahr sein!

Immer wieder holt mich der Schlaf. Dann, zehn, zwanzig Minuten später wache ich auf, habe Schmerzen im Rücken, wische die Alternativen, die mir im Traum in allen möglichen, schlimmen Varianten von meinem Unterbewusstsein vorgespielt werden, hinfort, versuche es zumindest, und rutsche immer tiefer ab in die Einsamkeit.
Allein - hier und heute bin ich es wirklich. Richtig einsam. Weit weg. Keine Chance.

Wie gern würde ich eine SMS schreiben. Irgendwem. Meinen Freunden, meinen Eltern. Aber geht ja nicht.
Die Grillen zirpen.
Und ich habe den Depri des Jahres.
Was für eine Scheiße!
Pleite in Japan.

Absturz in den Tiefpunkt - irgendwann, es ist mitten in der Nacht, schrecke ich auf. Jugendliche ziehen betrunken durch die leere Straße neben meinem Parkplatz. Und ich stelle mir vor, wie sie mich jetzt wohl sehen - ein Penner, stinkend, unrasiert, in einem Schlafsack auf einer Parkbank, die peinlich verstohlen hinter einem Werbeplakat an einer weiß gefliesten Wand steht. Ein Penner. Einer, der ein Nichts ist.
Wie sie wohl über mich spotten würden.
Lachen.
Schaut mal der da ... nee, den lassen wir in Ruhe, der arme Hund hat es eh schon so schwer.
Und sie ziehen weiter. Lachend. Feixend.

Und ich?
Ich bin ganz unten.
Ganz unten, heute Nacht.

Gefahren: 142,76 km in heißen 6:21 Stunden mit - so lala - 22,5 km/h Schnitt