Taifun!

Tag 10/Etappe 7 - Regen machen die Tour kaputt

Sturm rüttelt an meinem Zelt. Die Planen flattern in den Böen, ich bekomme kein Auge zu. Ist alles gut abgespannt? Ich blinzele in den grünen Himmel meiner silikonierten Stoffdecke, die sich knapp über meinem Kopf in den Wind stemmt. Ruckartig, fast, als prügele jemand auf mein Zelt ein, reißt der Sturm an ihm herum.

Ich kann das Schlagen der Plane hören, unter der meine Speedmachine steht. Diese Plane konnte ich nicht abspannen. Ich höre und hoffe, dass der Wind meinem Liegerad nichts anhaben kann. Zwischen zwei Pinien habe ich es geklemmt, dann die Plane dazwischen und so gut es eben ging den silbrigen Stoff um die Streben gewickelt.
Jetzt knallt und kracht die Plane im Wind.

Regen prasselt danieder. Kein Vergleich zu dem seichten Tropfkonzert, das ich unter dem Baum an meinem ersten Tag am Fuji-san genießen durfte - das hier ist richtiger Regen. Sturzbäche. Ich bin nass schon vom Zuhören.

Die Tropen gehen auf das Zelt nieder, schlagen auf der Liegerad-Plane ein und rund um mich herum, selbst im hohen Gras hier zwischen den Bäumen kann ich das Wasserbombardement hören. Unangenehm. Der Sturm streift Böe um Böe durch die Baumwipfel, irgendwie zischt und rumort es gewaltig hier am Abhang, an der Schräge, wo ich nach panischer Suche im aufkommenden Regen diese kleine Kuhle gefunden habe, nicht weit von der Straße, aber doch weit genug, um mich unbeobachtet, um mich sicher zu fühlen.

Und nun? Keine 20 Minuten später öffnet der Himmel seine Schleusen und lässt diesen Wolkenbruch niedergehen. Es regnet wie Sau. It´s raining Cats and Dogs. Oder, wie der Japaner sagt, es regnet Pflaumen.

Nass bin ich geworden. Zu erst auf dem Kopf, Trikot und Hosen waren eh schon vom Schweiß durchnässt, als ich gegen 15 Uhr meine Etappe abbrechen musste im aufkeimenden Regen, schnell rechts abgebogen in irgendeinem Dorf, keine Ahnung, wo ich hier überhaupt bin. Nicht einmal einen Conbini-Store gibt es hier ... wow, es donnert über mir ...

Ich rettete mich vorbei an einzelnen Häusern, fuhr eine löchrige Nebenstraße hoch, rein in den Wald, das letzte Haus ließ ich hinter mir, dann einen Waldweg rein, unter einem Schlagbaum durch, es fing an mit regnen, Scheiße, Scheiße! Da - eine Stelle. Abgestiegen, die Speedmachine durch einen halben Meter hohes, nasses Gras geschoben, den Berg hoch geprügelt. Super Stelle, schnell, die Plane, dann schnell, das Zelt.
Regen, er geht los.
Nass.
Kann kaum was sehen, meine Sonnenbrille ist viel zu dunkel hier, aber die richtige Brille in den Tiefen meiner Seitentaschen ... wow, es blitzt ...

Dann ging es los - kaum hatte ich das Unterzelt aufgebaut. Wrumm! Wie ein Donnern gleich kommen die ersten richtigen Regentropfen, der Guss beginnt. Nass, dunkel, nun auch Wasser auf der brille. Das Silikon meines Zeltes ist rutschig, durch die Cleats in meinen Schuhsohlen dringt Wasser an meine Füße.

Dann, endlich, das Zelt steht! Rein, rein, dunkel, eng, die Tasche hinterher gezogen, sie ist nass, egal, rein, zumachen, zu die Plane. Sitzen. Schneidersitz, oder so. Eng ist es. Diese fetten Taschen. Ich dampfe, ich stinke. Ich pumpe Luft - steht alles sicher? Das Rad? Trocken?

Ich ziehe mich aus. Keine Chance, hier irgendwo die Sachen zum Trocknen aufzuhängen. Feuchte Bündel Funktionswäsche. Stinkend, triefend. Ich trockne mich ab. Das Handtuch hat einen zweifelhaften Geruch. Ich auch. Diese fetten Taschen killen mich. Irgendwo an die Seite die Dinger. Meine Lampe macht Licht. Ich kann im Kegel der Dioden Sturzbäche am Zelt entlang laufen sehen. Wind zerrt die Plane mal hierhin, mal dorthin.
Socken aus. Zehen abrubbeln.
Unterhemd haus. Brust abtrocknen.
Neuer Slip.

Ich rutsche in meinen Schlafsack. Warm. geborgen.
Draußen tobt es nun richtig. Ich kann schon gar nicht mehr die Tropfen einzeln hören. Ein pausenloser Trommelwirbel aus H2O auf mein Zelt. Die Bäume, das Gras, der Boden, der ganze verdammte Berg liegen unter Dauerfeuer. Ich mittendrin. Feindesland. Weitab des Kurses.

Durst. Ich habe Durst. Nur noch ein halber Liter warmes Calpis vorhanden. Zähneputzen mit Spülen kann ich heute vergessen. Abendessen auch. Der Magen hat sich schon lange nicht mehr gemeldet - er schmerzt vor Hunger, vorhin plagten mich Krämpfe. Nun geht es.
Aushalten bis morgen früh. Hoffentlich. Wenn der Regen vorbei ist, gehts weiter. Morgen früh. Schlafen, ich sollte versuchen, zu schlafen. Zu vergessen.
Scheiß Etappe, echt! Wenig geschafft. Mitten im Nowhere hier.
Ich schwitze.
Es blitzt direkt über mir.

Dann der Donner. Durch Mark und Knochen fährt er mir. Erschüttert mich, lässt mir heißes Blut in den Kopf schießen. Alter! Da bebt sogar der Boden! Der Regen, irgendwie drischt er noch wütender auf mich ein. Der Wind, zum Sturm geworden, zieht an den Heringen. Draußen, die Speedmachine, unter Beschuss.

Ich drehe mich um. Will mich auf die Seite legen, ein Ohr bedecken, den Krach ausblenden, nichts mehr hören wollen, mich wegbeamen, irgendo anders hin, wo es nicht dunkel, wo es nicht unheimlich ist, in einen Traum, dorthin, wo es schön ist.

Ich drehe mich. Fasse mit den Fingern neben meine Isomatte auf den Zeltboden. Es fühlt sich komisch an. Weich. Wie Pudding. Ich stutze. Weich? So weich? Ich fühle noch einmal. Mit der flachen Hand zunächst, dann mit einem Finger. Oh mein Gott! Ist das Wasser? Fasse ich da ein eine Pfütze? Licht an! Brille auf, sie beschlägt sofort, als wieder runter, nahe die Augen ran. Scheiße! Tatsächlich, Wasser. Ich drehe mich zur anderen Seite. Das selbe hier - Wasser. Eine Blase, auf der ich liege. Ich kann das Wasser regelrecht wippen fühlen. Vorn - das selbe - hinten, am Fußende, auch Wasser. Scheiße, Scheiße!

Ich drehe mich um, starre zum Ausgang, das schwappt es schon rein. Sehe, wie die Pfütze in mein Zelt quillt. Wassersäule 10 Zentimeter, das wars. Durch den Reißverschluss suppt es unaufhörlich. Meine Klamotten liegen schon in einer Pfütze, saugen sich voll. Verdammt! Ich bin wie von einer Tarantel gestochen, ich fahre hoch, suche neue Klamotten, ach, Scheiße, nimm die Alten, wirst eh nass. Es suppt weiter rein, drückt richtig die Plane nach innen.
Rrrummm! Ein ein neuer Donner, schneeweiß, blendend grün, das Zelt, als der Blitz irgendwo neben mir im Berg einfährt. Wasser hämmert von oben. Drückt von unten. Eine richtige Pfütze nun im Zelt.

Als ich die nassen Schuhe anhabe, Grashalme kleben an ihnen, ich knie mich hin, öffne das Zelt von oben nach unten, schaue raus - Wasser in einem Schwall drückt ins Zelt, ich stehe auf, springe raus in den Regen, augenblicklich bin ich nass - Fuck! - ich stehe kniehoch in einer riesigen Pfütze, die mein ganzes Zelt umschlossen hat, vom Abhang her dröhnt in einem meterbreiten Wasserfall der Regen den Berg hinab, lässt meine Zeltkuhle immer weiter voll laufen.

Mittlerweile ist das Zelt vollends abgesoffen. Mein Fotoapparat, meine Seitentaschen, der Schlafsack, die Klamotten, alles abgesoffen. Ich werfe alles, so gut ich kann, in die schräge Hanglage. Den nassen Kram ins nasse Gras. Scheiße, scheiße, was soll ich tun? Was soll ich nur tun?

Stockduster ist es.

Es knallt und knackt im Wal. Kein Licht, nur meine Stirnlampe, deren regenzerfetzter Kegel nervös durch den dunklen Spukwald zuckt, Regen, Pfütze, ich stehe bist zum Schienbein in Wasser. Nasses Zelt klebt an mir. Ich muss tauchen, fühlen, um die Heringe aus dem Schlamm zu ziehen. Äste und Gras schwimmen um mich herum. Alles nass.

Neben mir, ein komisches Geräusch. Ein Tier? Ein Schwein, ein Bär womöglich? Ich fahre herum, gerade rechtzeitig um in anzuleuchten, als er bergab an mir vorbeischießt: Ein Baumstamm, ein kapitaler Karwenzmann, getragen von Nässe, gespült von einem Sturzbach, Schlamm spritzt, als er keine zwei Meter neben meiner Wasserkuhle an mir vorbei schießt, hangabwärts, ein Baumstamm! Alter! Wenn so einer mich trifft, ins Zelt fährt, den Stoff zerreißt, meinen Kopf trifft, ihn zerdrückt ...?!?

Dann, neben mir, die andere Seite, ein Ruck, ein Seufzer, silbrige Folie glänzt im Schein, als sie umfällt, die Speedmachine. Das Liegerad kippf um. Fällt. Landet neben mir im Wasser, geht unter. Ich stehe da, triefend, nass, das Zelt in den Händen, neben mir schaut etwas Orangenes aus dem Wasser. Es ist mein Liegerad. Abgesoffen.
Untergegangen.
Vollabsturz.
Hilfe, denke ich.

Hilfe!
Taifun!

ChroMoRa - eine Chronische Morgen-Rampe

Was für ein krasser Traum, denke ich, als ich aufstehe und gleich zum Fenster des Hotels renne, die Vorhänge beiseite ziehe und mich gleich überzeugen muss, dass es keine dunklen Wolken sind, die da den Himmel verhängen. Dass es kein dicker, nässetriefender Himmel ist, der da droht.

Nein, ist es nicht.
Es ist bewölkt, ja, aber freundlich. Weiße Schäfchen, eine große Herde, ziehen über mir träge dahin. Kein Schwarz. Kein Grau. Nein, freundliches Weiß. Ich bin beruhigt. Sollen die im TV doch was von Taifunen erzählen wie sie wollen. Draußen ist es mein Japan, wie ich es kenne, wie ich es liebe: Heiß, trocken.

Und bergig, wie ich wieder feststelle, kaum dass ich das Hotel verlassen habe. Direkt in Kokura geht es schon los. Ich kämpfe mich einige Wellen hoch, links neben mir auf den Bürgersteigen schreiten Horden von uniformierten Schülern, einige winken, schreien im Chor, einige andere lachen und rufen. Ich schwitze. Bin kaum schneller als sie. Ein paar Jungs mit klapprigen Damenrädern liefern sich sogar einen Sprint bergan mit mir, sie haben keine Chance, natürlich. Aber der Ritt die Steigung hinauf fordert auch seinen Tribut - zwar konnten die kleinen Bastarde nicht den Gaijin überholen, dafür stecke ich nun in der finalen Steigung fest.

Ein Monster von einem Anstieg. Zwei, drei Kilometer geht es schnurgerade den Berg hinauf. Neben mir, die Straße, ausgebaut zu einer Autobahn, Blech dröhnt an mir vorbei, ungläubige Mienen zweifelnder Mit-Vierziger Japanerinnen auf den Beifahrersitzen mustern mich. Und ich wie ein Schluck Wasser in der Vertikalen.

Ich komme endlich aus der Stadt hinaus. Heute geht es nach Süden. Nach Süden, denn ich will meine Schleife über Nagasaki drehen. Morgen wäre ich da. Heute stehen 150 Kilometer auf dem Programm - mitten durch Gebirge, mitten durch uralte Pässe, die schon in der Shogun-Zeit zum Handel benutzt wurden.

Heiß ist es.

Und die Taifune, sie spuken in meinem Kopf herum. Ich erinnere mich an meinen Traum. Scary. Und irgendwie fällt sie mir ein, Angela Merkel. Im Traum, irgendwie, erschien sie mir. Mitten im Sturm stand sie da. Blair Witch Project. Und sie mittendrin. Ein Schauer überfährt mich. Nee, lass mal, Taifun ist schon schlimm genug. Bundestagswahl daheim. Ich habe meinen Brief schon abgegeben - macht keinen Scheiß, Landsmänner, lasst meinen Traum nicht wahr werden. (Mmh, das ging wohl in die Hose).

Es ist warm heute. Aber bewölkt und deshalb stört mich keine Sonne, verbrennen keine Strahlen meine Haut und lassen mich nicht austrocknen wie eine Pflaume aus Kalifornien. Mein Tritt ist rund, obwohl nicht besonders schnell. Welle um Welle wirft mir der Straßengott vor die Felgen, aber ich strete stoisch. Nagasaki voraus.

Taifune im Rücken.
Merkel in Stellung.

Das gibt Power durch Angst.

180 Grad, Umluft.

Ich besiege die Steigung, während die Merkel zu Hause siegt. Und während ich mich weiteren Bergen gegenüber sehe, mich in die Vertikale werfe wie ein tapferer Berserker, stellt sie ein Kabinett zusammen, über das ich nur staunen kann, das mir Tränen in die Augen treibt, unverständlich, katastrophal. Dirk Niebel. Guido Westerwelle.

Kann ich nicht hier bleiben, liebes Japan?
Die Berge sind ruppig. Nicht diese großen, mejestätisch geschwungenen Riesenkuppen, die den Fuji-san flankierten, nicht von der Art, wie ich sie auf der Etappe nach Takamatsu neben mir hatte, eine felsige, brutale Mauer, die Wache steht, keinen durch lässt.
Nein, diese hier sind klein, zerklüftet, fies. Wald und Moos deckt ihre Grausamkeit zu, die Straße wird nach oben und unten geworfen, ein Auf und Ab der Prozente, killt jeden Wadenmuskel, zerbröselt Motivation wie altes Brötchen.

Aber ich stelle mich, kämpfe mich hindurch. Nagasaki, morgen. Es lockt.
Heiß ist es. Wahnsinn, wie die Sonne, obwohl ich sie nicht sehen kann hinter der wattedicken Wolkenschicht, hier alles erhitzt. Schweiß steht in Perlen, Wasser fließt in Bächen - Durst!

In einem Lawson greife ich ins Regal. Diesmal kein Calpis Water. Das wäre jetzt zu süß. Aber auch keinen Grünen Tee. Der wäre jetzt zu bitter. Ich greife zu einem eiskalten Tee, rote Verpackung, sieht Klasse aus. Bezahlen. Verbeugen. Arrigato.

Ich sitze draußen an meinem Liegerad. Parkende, rauchende Damen schauen mich musternd an, als ich die eckige Flasche öffne und den Inhalt hinunterstürze. Und stutze. Es schmeckt. Nicht. Es schmeckt nach gar nichts. Ich schmecke das Nichts.
Und schaue auf die Verpackung. Da steht: Energy, Protein, Carbohydrate, Sodium - ZERO. Da steht auch No Flavour.
Mmh.

Bei 700 verschiedenen Drinks, die ich mir aus dem reichhaltigen Angebot des Conbini hätte aussuchen können, isotonische, mineralstoffreiche, erfrischende und wohlschmeckende Getränke, nehme ich das, das nichts enthält und nach nichts schmeckt.
Und am teuersten ist.

Glückwunsch. So ist das, wenn man die Wahl hat, und in die Scheiße greift. Wie daheim in Deutschland. Merkel lässt grüßen.

Ich kämpfe mich durch einen Bergzug, eine Kette kleiner Giftzwerge, fiese, piesackende Berge, kleine hässliche Hügel mit kleinen hässlichen Steigungen. Nichts Großartiges gibt es zu berichten, ich folge einfach dem Asphalt, in Trance, tretend, schwitzend, singend.

Mache wieder meine zweisprachigen Lufthansa-Durchsagen, bevor ich den Verstand verliere, singe "Behind the Wheel" von Depeche Mode und frage mich, wie es wohl in Nagasaki sein wird. Schon keimt die Vorfreude in mir auf - irgendwie ist es auch gut, dass ich meine Route geändert habe, zwar nicht Beppu sehe, aber dafür nun noch weiter nach Westen gelange und Nagasaki, das idyllisch liegen muss, sehen kann.

Da enden auch die Berge, ich überquere eine lange Brücke über einen trägen Fluss, bin drüben, Route 3 hat mich. Ich halte an. Das war über eine Stunde Fahren wie bewusstlos, Trancetreten.

Bemannte Traumfahrt.

Es öffnet sich eine weite Ebene vor mir, ein tolles, ruhiges Tal. Ich schaue zum Himmel - keine Kondensstreifen. Zivilisation, die Moderne, scheint es hier nicht zu geben. Naja, so revidiere ich mich, als der erste von wieder endlosen Trucks an mir vorbei poltert, wohl doch geirrt, diese Bergkette war keine mystische Zeitbrücke in die Vergangenheit, nein, nur wieder eine weitere Felswand, die ich gemeistert habe.

Das Liegerad liegt super. Ich freue mich, wieder an die 25 km/h zu kommen, genieße die Ebene, endlich mal keine Steigung, und versuche, den nicht abreißen wollenden Schwerlastverkehr nur wenige Zentimeter neben mir zu ignorieren.


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Ich muss jetzt nur das Tal durchqueren, weiß ich von meiner Karte zu lesen, dann noch einmal durch eine kleine Bergwelt - vielleicht diesmal die Liegerad-Zeitschleife? - und dann wäre ich da, am Ziel, Kumamoto. Für heute.

Die Dorfattraktion

Ich komme in ein tief geschnittenes Tal. Es ist kaum 200 Meter breit, links und rechts von hohen, ruppigen Bergen begrenzt, dichter Wald wuchert auf ihnen herum, in der Mitte ein in ein schmutziges altes Betonbett gezwängter Fluss. Es geht in Wellen bergauf und wieder bergab, die Straße windet sich mal links mal rechts herum. Irgendwann, es ist mittlerweile so heiß, dass ich das Gefühl habe, dass gerade hier in der Enge des Tals die Luft zur unbeweglichen Stickigkeit zu stehen scheint, kommt ein kleines Dorf.

Ich entscheide mich, eine Pause zu machen.

Ich parke mein Liegerad neben dem Fluss, trüb und unbewegt liegt er da, scheint genauso wie ich zu stöhnen, so heiß ist es, kein bisschen Bewegung im Nass, deprimierend.

Ich sitze auf dem nackten Beton, versuche, das bisschen Schatten, den die Speedmachine mir gibt, auszunutzen und mich am heißen Wasser zu erfrischen, das in meinen schwarzen Seitentaschen auf Siedetemperatur gebracht wurde.

Mir gegenüber öffnet sich laut knarzend eine Tür. Heraus tritt eine alte Frau. Gebückt, langsam, wie in Matrix´ Bullet Time-Effekt, schlurft sie, eine Tasche tragend, über die Straße. Komisch, denke ich, als ich sie beobachte - wenn ich auf den Straßen unterwegs bin, rauschen die schwer beladenen Trucks nur so an mir vorbei. Kaum ist diese Dame, die das Pleistozän noch erlebt haben könnte, auf dem Asphalt, kommt nicht ein einziges Auto. Sie braucht Jahre, um zur anderen Straßenseite zu kommen.

Alte, rote Augen mustern mich.
Sie schaut herüber zu mir.
"Konnichi-wa!", rufe ich und proste ihr zu.
"Konnichi-wa, Hallo!", ruft sie zurück und lacht so breit, dass ich ihr herzliches, zahnloses Gebiss sehe. "Na? Ganz schön heiß heute, oder?", ruft sie.
"Joa ...", entgegne ich, "... aber nicht viel heißer als die letzten Tage auch, oder?"
"Das stimmt, mein Freund, das stimmt." Sie schlurft einige Schritte: "Wohin willst du denn?"
"Nach Nagasaki, dann wieder hoch nach Hiroshima", antworte ich.
"Oho.", macht sie, "da hast du aber ganz schön was vor!"
"Nee, nee, heute geht es nur nach Kumamoto", beruhige ich sie.

Gott, denke ich, wenn die Frau weiter so langsam geht, dauert dieses Gespräch noch Jahre! Links und rechts von mir haben sich weitere Türen geöffnet, zwei alte Herren stehen in den Torbögen und mustern mich. Gegenüber, hinter dem Fluss, schaut eine weitere Oma aus einem der Fenster eines Holzhauses. Direkt über ihr wölbt sich ein kunstvoll geschnitzter Dachfirst.

"Na, dann mal alles Gute!", sagt die Dame und grinst mich an.
"Oh, danke, Ihnen einen schönen Tag", entgegne ich.
"Ja, ja, ein bisschen Arbeit noch, dann reicht es aber auch für heute!"

So schlurft sie davon, überquert eine Brücke.
Die anderen starren mich noch eine Weile an, verschwinden dann auch in ihren Häusern.

Natürlich hat dieses Gespräch so nie statt gefunden. Ich wünschte, es hätte. In Wahrheit schnattert die nette alte Dame in einer Tour auf Japanisch, ich nicke nur und kontere mein Standard-"Wakarimasen".
Ich verstehe nicht."

Aber so ist das eben, wenn man sie Dorfattraktion ist.


Nach 10 Minuten ist auch der letzte der stillen Zuschauer wieder im Haus verschwunden und ich bin allein mit der Hitze, meinem Schweiß und matschigen Bananen. Und weil ich nicht weiß, was da noch vor mir liegt, ob dieses Tal noch enger, noch bergiger, noch heißer wird oder wie weit es noch sei bis Kumamoto, zwinge ich mir ein Power-Gel rein.

Klebrig, heiß wie Klebstoff versuche ich, "Tropical Fruit" herunter zu würgen, lange schon hat mich der tägliche Power-Shot nicht mehr so angeekelt, wie heute. Heiße Rotze, zäher Schleim, es schmeckt so, wie verfaulende Äpfel riechen, es klebt im Hals, verstopft die Speiseröhre, es schüttelt mich. Ah, gut, welche Wohltat, diese Geschmacks-Katastrophe nun auch noch mit heißem Wasser hinabzuspülen.

Na, verdrängen, Speedmaschinist, steh auf! Halte durch! Sattle die Pferde!

Ich steige in mein Liegerad, schnalle den Helm um, die Handschuhe, klinke meine Schuhe ein, fahre los, und sehe hinter mir die beiden älteren Herren kurz aus der Deckung ihrer Holztüren hervorlugen, als ich das Dorf verlasse und sie noch schnell ihre rosinenschrumpeligen Köpfe durch die Türen stecken, um mich zu sehen.

Das Tal ist mal gnädig, mal brutal. Mal geht die Straße gen Himmel, steil, unbarmherzig, mal fällt sie in einer spektakulären Kuve um einige Dutzend Meter bergab, dann werde ich augenblicklich schnell, breche durch die 60 km/h-Mauer und lege mich wie ein Jagdflieger in die Kurve. Unten stehen saftige Reisfelder in feinstem Grün, neben mir zischt es insektoid aus dichtem Wald.

Ich rege mich schon gar nicht mehr auf, über die Steigung.
Ich freue mich schon gar nicht mehr, über die Abfahrt.
Wie in Trance trete ich mich durch die Hitze. Meine Güte, bete ich, wann hört diese Backofenfahrt endlich auf?

Die Ebene der Sieger

Das tut sie nach 10 Kilometern. Ich schieße in einer letzten rasanten Abfahrt aus den Bergen und vor mir eröffnet sich eine flache Ebene. Links und rechts noch mehr Reisfelder, Berge, sie bleiben grüßend, winkend am Horizont zurück, vor mir, nichts als Fläche, flache Ebene, nahrhaftes Grün und vielleicht nur noch 20 Kilometer bis zum Ziel.

Schlagartig bessert sich meine Laune.

Links und rechts fliegen Autos, Transporter und Trucks an mir vorbei, und auch das stört mich nicht mehr - die relativ alte und enge Bergstraße ist wieder zu meiner bekannten, großzügig asphaltierten Route 3 geworden, ich komme wieder konstant auf Geschwindigkeiten um die 25 km/h.
Ich fliege nur so dahin.

Die Wolken sind über mir immer noch recht dicht, aber dafür lassen sie wenigstens nicht auch noch die Strahlen der Sonne durch, obwohl ich mir überlege, dass es noch viel heißer eigentlich gar nicht werden kann.

Es folgt noch eine kleine Essenspause, dann, die letzten Kilometer bis Kumamoto. Irgendwann macht die Straße einen Knick, es geht leicht abwärts, als ich in den unvermeidlichen Speckgürtel der Stadt einfahre, um wieder Patchinko-Hallen, Supermarkt-Tempel und Konsum-Schlösser zu durchqueren.

Dann Kumamoto - ich lande inmitten einer riesigen Fußgängerzone, links und rechts türmen sich Manhattan-artige Hochhäuser, tausende Menschen sind unterwegs, Verkehr wie in Tokyo. Hallo? Ich dachte, das wäre hier eine kleine Stadt á la Matsuyama?!?


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Ich frage im Tokyoko-Inn, ob sie ein Zimmer hätten. Natürlich haben sie, freundlich füllen sie den Anmeldebogen aus. Als ich meine Speedmachine hineinschiebe, winken sie ab - nein, das Rad müsste bitte ins Parkhaus. Ich versuche ihnen zu erklären, dass es teuer sei, und ich es lieber bei mir auf dem Zimmer hätte.
Nein, keine Chance.
So gehe ich wieder.
Das erste mal, dass sie mir hier in Japan etwas verweigert haben.

Erst im Kotsu Hotel heißen sie mich willkommen - das Rad aufs Zimmer? "No Problem, Sir, may I help you with the Bicycle?", fragt der herzliche Concierge. Nein, danke, das geht schon - aber toll, dass Sie fragen!

Minuten später sitze ich auf Klo, verdienterweise, und studiere die detaillierte Anleitung, wie man es richtig benutzt. Diese Japaner ... denke ich mir nur, grinse in mich hinein und freue mich, als neben mir das heiße Wasser in die Wanne sprudelt und ich endlich den Dreck des Tages abwaschen kann.

Smogwashing und Haltungsschäden

Da sitze ich nun, versinke in heißen Fluten, quetsche mich in die Enge aus Emaille und genieße die Hitze, zum ersten mal heute, genieße sie, sauge sie ein, schwitze sie aus, den ganzen Dreck loswerden, den Schmand der Straße, Feinstaub, Diesel und Ruß. Die Kilometer, ich kann sie greifen, kann sie abwischen - dicke, schwarze Schicht Arbeit. Kurbelumdrehungen.

Distanz sichtbar gemacht.

Als ich die Wanne verlasse, klebt ein dicker schwarzer Rand an ihr. Ich schäme mich ein wenig, aber so ist das nunmal, als Ritter der Landstraße, direkt im Verkehr, meine Waden, wenn sie in Höhe der qualmenden Schlote sich bewegen, alles einsammeln, was an meiner eingecremten Haut hängen bleibt.

Ich genieße es förmlich. Komisch - draußen, beim Fahren, da ekelt sie mich an, diese Hitze. Macht mich fertig, zieht mir die letzte Kraft aus den Poren. Aber hier, inmitten von Fliesen und der hygienischen Umgebung eines Badezimmers, da heiße ich sie willkommen, kann gar nicht genug bekommen.

Nachdem ich gebadet bin, geschniegelt und gebügelt, mache ich mich auf, mir die Stadt anzusehen. Kumamoto, was hat es zu bieten?
Der tolle Concierge schenkt mir einen Stadtplan und empfiehlt mir ein Cybercafé in einer der unzähligen und unvermeidlichen Fußgängerzonen. Emails schreiben, das ist, was ich als erstes muss. Muss, muss! Hunger, Durst, alles nicht so wichtig - ich muss kommunizieren, den Lieben daheim, meinen Eltern, meinen Freunden, meinen Kollegen endlich mitteilen, dass es mir gut geht, wo ich bin und was ich hier erlebe.

Im Einkaufszentrum wieder das gewohnte Bild: Laute Musik, schrille Neonreklame, Läden für alles und jeden, Patchinko-Hallen, aus denen Bummsmusik dröhnt und Horden kichernder Uniform-Schülerinnen, die entweder am Handy hängen oder in lebhaftem Shopping-Talk versinken.

Dabei fällt mir wieder auf, dass die jungen Damen hier Haltungsschäden vom Feinsten haben: Fehlstellungen der Füße, X-Beine wohin das Auge blickt. Ich achte bewusst darauf und bin schockiert. Fast jede Zweite dreht extrem die Füße nach innen. Komisch.

Ich suche und finde das Internetcafé, eine Stunde kostet 800 Yen und endlich kann ich wieder nach langer, langer Zeit Lebenssignale nach Deutschland schicken. Meine Lieblingskollegin aus der Agentur antwortet sogar gleich, so kann ich sogar noch ein kleines Gespräch initiieren.
Die Stunde vergeht wie im Fluge.
Ich habe allen gemailt.
Bin zufrieden.
Glücklich sogar ein wenig.

Als sich mein Magen meldet - also auf, die müden Knochen in Bewegung gesetzt: Hunger!

Taufun!

Draußen erwartet mich die Hölle. Es ist stockduster. Schwül. Drückend warm und sofort spüre ich diesen schweren Druck auf den Lungen: Feuchtigkeit. Es ist eine Feuchtigkeit, die ich noch aus Mauritius kenne - satter Geschmack auf der Zunge, Wasser, das durch alle Nähte der Kleidung kriecht, sie an der Haut kleben lässt und Kopfschmerz verursacht.

Draußen wütet er. Der Taifun.
Ich trete aus den automatischen Schiebetoren der Mall. Regen, ich mag es nicht Regen nennen. Die Tropfen sind Augapfelgroß, dicke, runde, satte Dinger. Ein Bombardement aus Wasser, ein dichter Vorhang, durch den ich kaum die gegenüber liegende Straßenseite erkennen kann.

Es pladdert nur so herunter, fegt den Dreck von den Bürgersteigen, spielt Klavier mit den Blechdächern der gepakten Autos. Die Rinnsale am Straßenrand schwellen in den paar Minuten, die ich mit einem Dutzend Japanern unter dem Vordach stehen bleibe, zu reißenden Flüssen an, bald schon schieben Autos und Busse eine Bugwelle atlantischen Ausmaßes vor sich her.

Weltuntergangsstimmung. Wahnsinn, denke ich mir, und staune über so viel Regen.
Kein Vergleich zu deutschen Gewittern oder Wolkenbrüchen. Wahnsinn, diese Tropfen. Dabei trotzdem so weich und warm. Angenehm fast, denke ich, als ich mich von einer perfekt Japanisch sprechenden Dame verabschiede, die mich in ein Gespräch verwickelt hat, und hinaus trete, hinein, in die Dusche.

Es dauert keine 10 Sekunden und ich bin durchgeweicht. Bis auf die Knochen. Nass. Pitschnass. Schuhe, Hosen, T-Shirt, alles nass. Das Bad hätte ich mir sparen können, denke ich.

Und auf dem Nachhauseweg fällt er mir wieder ein, mein Traum.
Wie wäre das nur, jetzt, draußen, irgendwo vor der Stadt. Wildcamping.
In diesem Inferno.
Und plötzlich ist sie gar nicht mehr so fern, diese Vision von kniehohem Wasser im Zelt, von der Speedmachine, die untergeht, vom pfeilschnellen Baumstamm, der wie ein Amboss gleich den glitschigen Abhang hinab gleitet, die Kraft besitzend, Schädel zu zertrümmern.

Im Hotel sitze ich, trockne mich ab, schlüpfe in den Kimono und schaue Nachrichten. Ich verstehe kein Wort, wie immer, aber ich kann die Wetterkarten lesen - zwei Taifune, immer näher kommen sie. Bringen Regen, bringen Winde.

Ich schaue ein letztes Mal aus dem Fenster.
Leere Straßen, angefüllt mit Wasser. Kanäle fast, in denen ich erwarte, im nächsten Moment venezianische Gondeln zu erblicken.

Wahnsinn, denke ich. Immer wieder Wahnsinn - heiße ihn willkommen, den Taifun. Und frage mich, was nun aus meiner Tour wird.

Gefahren: 162,98 km in 6:36 Stunden mit einem 25er Schnitt.